zurück vermutlich Ende November 1870 ID: 187011315

[jedenfalls nach dem 18.11.1870]
Die Zeitschrift "Euterpe" (29. Jahrgang) bringt in Heft 8 auf S. 141 - 147 den dritten Teil von Theodor Manns Bericht über seine Reise von Berlin über Prag nach Wien zum Lehrertag Pfingsten 1870 mit der Schilderung von Bruckners Orgelkonzert am 10.6.1870 auf S. 143ff:
"                  Aus meiner Reisemappe.
                            (Fortsetzung.)
     Nur zwei Gräber weiter von der Ruhestätte Beethoven's befindet sich die des Liederfürsten Schubert [... über diese und die Gräber Haydns und Mozarts ... "Freischütz" in der Hofoper ... Lehrerversammmlung ... Kaisergruft ... S. 143:].
     Dann endlich eilte ich nach der Josephstädter Piaristen=Kirche, in der Herr Professor Bruckner Nachmittags 4 Uhr ein Orgel=Concert, aus 4 Piecen bestehend, veranstaltete. Beim Eintritt in die Kirche, deren majestätischer Bau mich entzückte, fand ich dieselbe schon dicht mit Zuhörern gefüllt, so daß ich nolens volens mit einem Stehplatz vorlieb nehmen mußte. Alle Zuhörer und auch ich waren ohne Programm, so daß wir nicht wußten, was wir zu hören bekommen sollten. Vor dem Concert selbst theilten einige Geistliche viele Exemplare der Beschreibung der Orgel mit Zeichnung derselben und Bildniß des Erbauers, Buckow aus Hirschberg, versehen, aus, ebenso Hunderte von Exemplaren der riesengroßen Lithographie der Orgel, die alle noch seit ihrer Erbauung vom Jahre 1858 her im Kirchenarchiv verpackt lagen und zu deren Vertheilung der günstigste Moment jetzt gekommen zu sein schien – das Concert.
     Das Concert begann und ich wußte nicht, was der Concertgeber spielte; daher suchte ich mir den Aufgang zum Orgelchore auf, um mich bei jenem selber darnach zu erkundigen. Leider war er von so vielen neugierigen Bewunderern umgeben, daß er wie hinter einem Wall vor seiner Orgel saß, und ich nicht zu ihm herankommen konnte. Ich blieb stehen und bemerkte, daß er auswendig spielte. Damit war mir noch nicht gedient; ich mußte auch das Programm kennen lernen und bat ihn daher nach dem Concerte schriftlich, mir dasselbe mitzutheilen, worauf ich ein sehr freundliches Schreiben von ihm erhielt, in dem er sagte: "Außer der 5stimmigen Cis-moll=Fuge von Seb. Bach habe ich Alles improvisirt und daher keine Note aufgeschrieben. Zuerst versuchte ich aus dem Thema der Bach'schen Fuge eine Introduction zu improvisiren, dann kam die Fuge; dann das Andante mit sanften Stimmen im freien Style, dann improvisirte ich auf Ansuchen vieler Lehrer noch zwei Sätze, den ersten im freien Style, den letzteren contrapunktisch, thematisch, à la Fuge. Das war Alles! Ich bereite mich meistens nie vor, sondern lasse mir die Themata aufgeben, und das hat mir auch voriges Jahr in Nancy beim Orgel=Congresse den Sieg bereitet; eben so bei den Concerten in Paris, namentlich in Notredame." Das erste Stück wurde meisterhaft gespielt; leider that zum Schluß der Calcant seine Pflicht nicht, sondern ließ den Wind einige Male ausgehen, was eine große Störung verursachte. Das zweite Stück, als Andante pastorale würde ich es bezeichnen, hatte besonders den Zweck, die verschiedenen, sehr schönen Klangfarben der einzelnen Register und Claviere den Zuhörern vorzuführen. Alle Sachen wurden gewandt und mit gutem Vortrage ausgeführt; die Aufmerksamkeit der Zuhörer wäre doppelt so groß gewesen, wenn sie gewußt hätten, was gespielt wurde. Wir norddeutsche Collegen hatten von dem Concert mehr erwartet und sind von vorne herein auch daran gewöhnt, Mehr und noch Besseres zu hören, als was uns dort geboten wurde; die meisten süddeutschen Collegen aber verließen sehr befriedigt die Kirche. Das Orgelwerk selbst [... über das Instrument, seine Disposition und technische Ausstattung ...].
     Nach beendetem Concert eilte ich in das Theater an der Wien, wo eine Festvorstellung für die Theilnehmer der Lehrerversammlung unter der Direction von Geistinger und Steiner und unter Mitwirkung von Mitgliedern der beiden kaiserlichen Hoftheater veranstaltet war. [... Vorhang noch aus Mozarts Zeiten ... am nächsten Tag Ausflug nach Mürzzuschlag ... S. 147:]
     Endlich gings zur Heimkehr.
     Berlin.                                      Th. Mann.
                 (Fortsetzung und Schluß folgt.)"

 


Zitierhinweis:

Franz Scheder, Anton Bruckner Chronologie Datenbank, Eintrag Nr.: 187011315, URL: www.bruckner-online.at/ABCD-187011315
letzte Änderung: Nov 17, 2024, 9:09