zurück 15.1.1893, Sonntag ID: 189301155

Die Allgemeine Zeitung München Nr. 15 bringt auf S. 5f einen »Wiener Musikbrief« von Richard Heuberger, in dem Bruckners 8. Symphonie mit Richard Wagners Musik verglichen wird.
"                  Wiener Musikbrief.
    Von Richard Heuberger.
     * Die Alten sind heutzutage die Idealisten. Die Jugend, die "Jahrhundertender" haben sich – da das blaue Blut langsam aus der Mode kommt – nun gar schwarzes angeschafft. Drei in Wien rasch auf einander folgende Premieren haben diese unsere Ansicht wieder bestätigt. Der fast 70jährige Anton Bruckner, der mit seiner knorrigen achten Symphonie bei den Philharmonikern großen Erfolg hatte, ist, trotzdem das herbe Schicksal diesen Priester der Kunst zu recht unfreiwilliger Armuth und Ehelosigkeit verurtheilte, ein unverbesserlicher Idealist geblieben; der wenige Jahre jüngere Johann Strauß [... über "Fürstin Ninetta" ...]. Arbeitet Bruckner in hochfliegendstem Sinne für die Denkmänner und Strauß für die Epikuräer, so tritt der dritte Meister [... Mascagni "Die Rantzau" ... als nüchterner Praktiker ...].
     Indem wir zu Bruckner und seiner C-moll-Symphonie zurückkehren, wollen wir vor allem dem oft und oft wiederkehrenden Ausspruche entgegentreten, dieser Meister habe Wagners Tonsprache ins Symphonische übertragen. Bruckner ist in seiner Erfindung unabhängiger von dem großen Bayreuther, als manche im Gewandhause mit gedörrtem Lorbeer bekränzte Häupter. Wo er sich ähnlich wie Wagner ausdrückt – und das passirt ihm gewiß auch zuweilen – hat er eben nicht erfunden. Erfinden heißt ja gerade etwas hervorbringen, was früher noch nicht da war. Abgesehen von solchen Minima eigener Schöpferkraft, gibt Bruckner stets aus der Fülle seiner Persönlichkeit. Was an Wagner erinnert, ist oft mehr das Aeußerliche: die Instrumentirung, das Klang=Gewand. In diesem letzteren sehen wir freilich manche Perle aus der Krone Isoldens, manches Stück aus dem Schatze des Rheingoldes – aber diese mehr für die Ohren, als die für die Seele vorhandene Aehnlichkeit vermag uns nicht über den fundamentalen Unterschied zwischen den beiden Meistern irre zu machen, der nach unsrer Ansicht darin besteht, daß Richard Wagner einer der logischsten Denker war, wähend bei Bruckner das Sprunghafte, Unvermittelte, oft das direct Unlogische überwiegt. Das sollte auch Grund genug dafür sein, daß sich die Anhänger Wagners nicht gar so blind als Gefolge Bruckners verwenden lassen.
     Die neueste – 1889 - 1890 componirte –Symphonie des greisen Componisten verläugnet in keinem Zuge ihren Schöpfer: in gutem Sinne in gigantischen Anläufen, genialen Einzelzügen, in rücksichtslosen Durchführungspartien, in blendender Klangpracht und virtuoser Beherrschung der Instrumentaltechnik, in üblem Sinne in der Vorliebe für – nahezu ans Kindische streifende – contrapunktische Spielereien, in der weniger consequenten, als eigensinnigen thematischen Arbeit und der stellenweise recht mangelhaften Diction. [... Gutes über das Adagio, aber Vorbehalte gegen Teile der anderen Sätze, siehe https://digipress.digitale-sammlungen.de/view/bsb00085561_00147_u001/5, dort S. 0155 ...]. Das Finale hat auch die Brahms=reinsten Anhänger Bruckners enttäuscht. Es ist leeres Getöse ohne Erfindung, ohne Fluß, ohne Reiz.
     Von Bruckner zu Strauß ist gewiß ein ungeheurer Sprung – und dennoch führt ein unverfehlbarer Weg von jenem starren Felsen in dies von tausend freundlichen Blumen erfüllte Thal. . . .  Aus beiden Künstlern spricht das echte Oesterreicherthum, die Freude am Gesang, an schöner Natur, in den Werken beider spiegelt sich die üppige Volkskraft des herrlichen Landes an der Donau. [... über Strauß und Mascagni ...]." (*).

In der Musikalischen Rundschau Nr. 2 erscheint auf S. 15f eine Analyse des 1. Satzes der 8. Symphonie von Max Graf:
"Eine Analyse der achten Symphonie (C-moll) von Anton Bruckner.
     .  .  .  .   Noch mehr als in seinen vorhergegangenen Symphonien hat Bruckner in seiner letzten die starren Formen der Symphonien aufgelöst. Das Criterium derselben sind nicht althergebrachte Formeln, welche eine äussere Einheit bilden, sondern, wie ich mich in der letzten Nummer auszuführen bemühte, die einheitliche Individualität des Componisten, der auch die abgelegensten Theile mit seinem Herzblut erfüllt und sie auf diese Weise mit dem Ganzen in innerer Einheit verbindet. Gleich die erste Symphonie Bruckner's (C-moll) löst alle Formeln und Formen der alten Symphonie; was ihr aber fehlt, war die ausgesprochene Individualität des Schöpfers, welcher oft mehr Wagner, als sich sprechen lässt. Auch die vielgerühmte, Richard Wagner gewidmete "Dritte" (D-moll) gilt uns nicht als Vollwerk des Meisters. Erst in der grandiosen "romantischen Symphonie" (Es -dur) tritt uns die geschlossene Form der Indididualität als verbindende Einheit entgegen, welche frei von allem Fremden Gesetze gibt und Einheit schafft.
     Die vollständige Beselung [sic] aller Fasern des Tonwerkes macht auch die "Achte" zu einem grandiosen Hauptwerke Bruckner's. Alle Stimmen des grossen Orchesterapparates sind tönend geworden, eine klingende Welt spricht zu uns, wie sie wohl Schopenhauer geträumt haben mochte, als er die Musik die tönende Weltseele nannte.
     Während im ersten Artikel die subjective Wirkung dieses Werkes wiedergegeben wurde, das Elementare und Unmittelbare des Tonwerkes, soll jetzt, was sich als Secundäres dem kritischen Verstande beim Studium der Partitur*) [Fußnote: "*) Die Partitur der Bruckner'schen Symphonie ist in glänzender Ausstattung im Verlage der verdienten Firma Carl Haslinger, qu. Tobias in Wien erschienen."] ergibt, aufgezeichnet werden.
     Die Besetzung der Symphonie ist folgende: (Grosses Orchester) Streichquartett (oft getheilt), drei Flöten, drei Oboen, drei Clarinetten, drei Fagotts, vier Hörner (im Scherzo getheilt), drei Tenortuben, Basstuba, drei Trompeten, Alt-, Tenor-, Bassposaune, Contrabasstuba, Pauken, Harfen, Schlagwerk.
     I. Satz. Allegro moderato (alla breve), (Erster Theil). Ueber dem von Violinen und Hörnern gebrachten Grundton f erhebt sich von Viola und Violoncell getragen das Haupttherma: Th. I α.

     
welches auf höherer Stufe von d aus wiederholt wird.    Als Antwort erfolgt: Th. I β.

     
gleichfalls (in etwas veränderter Form) von c aus wiederholt.
     Die Fortsetzung des Themas bildet Thema I E.
     Der ganze Themencomplex wird wiederholt, Hörner, Tuba und Bässe heben das Thema ff hervor, während sich zu den den Grundton in Octav haltenden Violinen noch die Holzbläser hinzugesellen.     Das contrastirende Gesangsmotiv (Th. II) scheint in seiner charakteristischen Triolenfigur ebenfalls ausTh. I E gebildet. Die Fortsetzung der Gesangsgruppe erhebt sich in gedrängterer gesanglicher Form über der Umkehrung desselben (Th.III), welche im Verlaufe des Satzes eine grosse Rolle spielt, und stösst mit dieser im dissinonirenden [sic] Secundenintervalle zusammen (ähnlich der "Heroika").
     Dies sind die Motive des ersten Satzes, knapp, jedoch äusserst charakteristisch. Die folgende Durchführung bringt zuerst die seelenvolle Gesangsgruppe mit ihrer Umkehrung, welche, nachdem in den Hörner- und Holzbläsern ein kleines, gedanklich den bisherigen Themen verwandtes Seitenthema erblüht, rosalienhaft in chromatischen Schritten aufstigt. Darunter schreiten gleichzeitig mit ehernen Schritte die Bässe von ges durch zwei Octaven chromatisch aufwärts, um unter Trompetenfanfaren in den Es-dur-Quartsextaccord einzulenken, worauf Thema 1 erscheint.
     (Zweiter Theil – sehr ruhig.) Hier erfolgt statt ganzer Reprise eine interessante Weiterführung. Horn, Oboe, Tenor und Bassposaune wiederholen über dem festgehaltenen es und b der Geigen den Themenansatz bis in Holzbläsern und erster Violine die Umkehrung des Hauptmotivs (Thema I) erscheint. Nach kurzer Durchführung desselben, in welcher Thema III contrapunktisch verwerthet wird, erhält Thema III das Uebergewicht. Während es in Rosalien fortschreitet, pocht in die Bässe Th. I A und deutet im Rhythmus, von Pauken unterstützt, auf neues Kommendes.
    Hier ist auch der zweite Theil des ersten Satzes in ähnlicher Weise abgeschlossen, wie der erste Theil desselben; bei beiden führt ein chromatischer Bassanlauf zu neuem Themenmaterial.
     (Dritter Theil.) Das Neueintretende, worauf das Pochen der Bässe und Pauken uns spannte, tritt in einem contrapunktischen Kunststücke ein.
     Während Bässe, Fagot [sic], Posaune und Tuba das Hauptthema (Th. I) bringen, erschallt in den übrigen Holzbläsern, Trompeten, Hörnern, Violinen und Viola in Choralform Th. III im fff (Feierlich breit), beide Themen vergrössert. Diese imposante Stelle bedeutet den Höhepunkt des ersten Satzes. In der folgenden Durchführung werden beide Themen getrennt. Ueber einem Doppelorgelpunkt der Pauke C und Bässe Th.. I. C erhebt sich das von Flöten gebrachte letzte Choralthema, während zu Figurationen das Th I C Oboen, Clarinetten, Trompete das erste Hauptthema bringen. Von S 19 Q bis S 23V scheint uns nach diesem gewaltigen Höhepunkt eine kleine Oede, in welcher Bruckner die verschiedensten Themen (Th. II Th. III) abwechseln lässt. Nur an dieser 60 Takte umspannenden Stelle scheint uns der logische Faden fallen gelassen worden zu sein. Nach einem Höhepunkt, wie der Anfang des dritten Theiles, erwartet man unausbleiblich eine letzte gewaltige Steigerung, keine Episoden. Nach dieser Oede folgt allerdings eine der grössten Bruckner'schen Steigerungen, in welcher der Rhythmus des Hauptthemas im Blech erschallt, die Pauke durch Schläge auf C den aufwärtsstrebenden Massen den Weg weist, der alle im C-moll-Accord einigt. Merkwürdigerweise findet der Satz hier keinen Abschluss, sondern über dem von Bässen und Pauken abwechselnd gebrachten Orgelpunkt, löst sich zuerst von der Umkehrung Stück für Stück verhauchend los, während die Schlussacte [sic] des Hauptmotivs (Th. I C) zweiundzwanzigmal immer leiser und leiser erklingen und endlich ersterben.
    Der ganze erste, überaus knappe Satz bildet also folgendes Schema, welches am besten die Behauptung von Bruckner's Regellosigkeit entkräften möge:
          I. Haupttheil S 1 – S 10, Takt 4.
         II. Haupttheil S 10, Takt 4 – S 15 L.
        III. Haupttheil S 15 L – Schluss.
     I. und II. sind wie oben gezeigt, parallel gegliedert – zwei Stollen, denen in III. der Abgesang folgt. Der Satz zeigt also Sonatenform, nur bringt Theil II. statt der Reprise die Umkehrung des Hauptthemas und dessen Durchführung.*)
                                               Max Graf.
                       (Schluss folgt.)"
[Fußnote: "*) Um übrigens von der Ehrlichkeit der Kritik Eduard Hanslick's Zeugniss zu geben, sei sein Satz "Der erste Satz sei ausgefüllt mit absteigenden Rosalien (ähnlich der Tannhäuser-Ouverture)" ein wenig beleuchtet. Rosalienartige Stellen bilden hie und da den contrapunktischen Zierrath des Satzes, wiederholte, im Ganzen etwa zwanzig Takte, wirkliche Rosalien – das stufenweise  ununterbrochene Fortschreiten einer Figur etwa – zehn Takte. Das nennt man gewissenhafte Kritik!"] (**).

In einem Artikel der Ostdeutschen Rundschau Nr. 3 auf S. 6f wird Bruckner erwähnt:
"          Compositions-Concert Josef Reiter
  am 12. d. M. im großen Musik-Vereinssaale.
     Es war ein Sieg deutscher Kunst, dieses Compositionsconcert Reiter's, dessen Zustandekommen einzig und allein nur der Begeisterung echt deutscher Herzen für Reiter zu verdanken war. [... ohne bisherige Protektion ... finanzeller Erfolg tröstet über Entzug des Gehaltes während des (Kompositions)Urlaubes hinweg ...]
     [... glänzender Konzertverlauf, Appel statt Ferdinand Jäger, großes Lob für die Balladen, Lieder, das einsätzige Streichquartett (mit August Duesberg) und Liszts "B-A-C-H", gespielt von Reiter ...] wobei er sich auch als ausgezeichneter Organist bewährte.
     Freudig sei dem aufstrebenden Tondichter dieser Erfolg seiner bedeutenden Begabung gegönnt, welche auch Meister Anton Bruckner, der dieses Concert durch seine Anwesenheit auszeichnete, mit Worten des größten Lobes anerkannte. Die Zukunft gehört Reiter, hoffentlich bereitet er uns keine Enttäuschung wie Mascagni, dazu ist er zu deutsch, zu gründlich.                             Josef Stolzing." (***).

Kurze Notiz zur 8. Symphonie [am 18.12.1892] in der "Caecilia" Nr. 3 (Algemeen muzikaal tijdschrift van Nederland) auf S. 22 (= S. 6):
"     Weenen. — Anton Bruckner's achtste Symphonie moet bij de eerste uitvoering een diepen indruk op de hoorders hebben gemaakt.
    — Prof. Tilgner heeft na herhaalde omwerkingen het model voor Mozart's gedenkteeken thans voltooid. Na langdurige beraadslagingen is besloten het geheele monument in wit marmer uit te voeren, alleen de inscriptie, guirlandes, muziekinstrumenten, enz. zullen verguld worden." (°).

(5. Philharmonisches Konzert unter Hans Richter mit Werken von Schumann, Beethoven (2. Sinfonie) und »Tod und Verklärung« von Richard Strauss (°°)).


Zitierhinweis:

Franz Scheder, Anton Bruckner Chronologie Datenbank, Eintrag Nr.: 189301155, URL: www.bruckner-online.at/ABCD-189301155
letzte Änderung: Okt 04, 2023, 22:22