zurück 3.3.1895, Sonntag ID: 189503035

Inserat in der Vossischen Zeitung für die Berliner Aufführung der 4. Symphonie am 9.3.1895 (*).

Artikel »Anton Bruckner« in der Neuen Musikalischen Presse Nr. 9, S. 1-4, von Schönaich (**) und nachfolgend Theodor Helm (***). Auf Seite 1 eine Abbildung Bruckners [IKO deest].
"             Anton Bruckner.
     Die äussere Erscheinung Meister Anton Bruckner's gibt uns nicht weniger Räthsel zu lösen, als seine Musik. Im Ausdruck seines Kopfes streiten sich die beiden grossen Epochen Roms, die kaiserliche und die päpstliche, um die Vorherrschaft. Wie ein Vexirbild scheint er uns in diesem Augenblick typisch für einen mächtigen Imperator, um im folgenden die Züge eines celebrirenden Cardinals zu zeigen. Noch ein Blick auf ihn – und der hervortretende  oberösterreichische Bauer macht Kaiser und Papst verschwinden – aber, was sie alle gemein haben – einen starken Zug der Weltlichkeit – auch der verschwindet  bei wiederholter Betrachtung. Alter und Uebel haben die Fettlagen entfernt und die Furchen der Askese zeigen sich tief eingekerbt auf dem neuen Bilde. Aus den Augen aber, die, über die Welt der Erscheinungen und Formen hinweg, nach der reinen Anschauung des Ewigen zu suchen scheinen, blickt der visionäre Musiker, für den die Tonwelt die einzig reale ist, der nur in ihr lebt, dem das Geschehnis gleichgiltig, die Empfindung, das Gefühl Alles ist. Bis Bruckner haben wir keinen Musiker erlebt, der vom Dämonischen seiner Kunst so beherrscht, so unterjocht worden wäre. Der geheimnisvollen Macht der Töne und ihren Combinationen sich zu unterwerfen, mit ihnen sich Eins zu fühlen und durch sie zu verkündigen, was er zu sagen hat, was ihm offenbar geworden, ist seine Schwelgerei, sein nimmerzustillendes, sehrendes Bedürfnis. Er ist der grosse Beherrschte der Töne. Auf die ganze Welt der Zwecke und deren Zusammenhänge hat der Siebenzigjährige kaum aus einer Dachlucke einen flüchtigen Blick gethan. Lustgefühl und Schmerz, prometheisches Streben und epimetheisches Ermatten, Anschauung der Gottheit und orgiastisches Steigern aller menschlichen Lebensgefühle, Beschaulichkeit und Kampf — das Alles tritt ihm als Musik, als Melodie, als Rhythmus, als Stimme und Gegenstimme, als harmonische Wendung, als contrapunktirter Satz, als Orchestercolorit in sein nach Gestaltung ringendes Bewusstsein. Wir erblicken nicht mit Schopenhauer im Willen das «Ding an sich» und daher auch nicht in der Musik dessen Offenbarung. Aber dass das musikalische Empfinden den am tiefsten liegenden Quellen des menschlichen Sichbewusstwerdens entspringt, bildet unsere unzerstörbare Ueberzeugung. Dass die Weltanschauung, die durch das Ohr oder durch den vorgestellten Ton vermittelt wird an Klarheit hinter der durch die Begriffe errungenen zurückstehe, kann nicht ohne Weiteres behauptet werden. Intuitiv wird, die Welt durch den Ton in tieferem Sinne erfasst. Sein Geburtsort ist in der Nähe des Sitzes der «Mütter». Antor Bruckner's Wissen von der Welt stammt von dorther. Daher seine grandiose Weltfremdheit, die göttliche Ungeschicklichkeit seiner Anpassungsversuche, das Befremdende seines Gehabens und die strenge Localisierung seines Denkens auf musikalische Erfindung und Combination. Nur ein dunkler Gast auf der trüben Erde der Zwecke, hört und überträgt er die Stimmen jener geheimnisvollen Regionen, in denen die menschliche Leidenschaft nicht durch Ohnmacht compromittirt, Trotz und Hingebung noch durch kein gemeinegoistisches Motiv verunreinigt sind. Und darin liegt das Geheimnis seiner langen Erfolglosigkeit – aber auch seines endgültigen Sieges. Den bedeutenden Erscheinungen wird von kritischen Kärnern auf's Zudringlichste das Mass abgenommen. Sie kommen mit ihren Ellen und Sonden, ihren Chemikalien und Probirsteinen und wollen endlich festgestellt haben, wie und warum sie so gewesen seien. Da kommt ein Anderer daher und will auch etwas bedeuten. Nun wird sogleich festgestellt — so, wie die Andern — ist er nicht. Also fort mit ihm! Wozu hätten wir uns Jahre lang geplagt das richtige Erkennungszeichen des Genius zu ergattern? Aber es nützt nichts! Lange predigt er in derWüste, dann lauscht ihm eine Schaar ein bischen scheu aber mit wachsendem Glauben, dann ertönt an einer und der andern Stelle seiner Rede, endlich im brausenden Chor das »Hört, Hört!« und eine grosse immer wachsende Gemeinde ist es inne geworden: Er hat Etwas zu sagen, das uns innerlich trifft, das uns neu ist, das uns erleuchtet! Solche sich verbreitende und vertiefende Eindrücke sind die unwiderstehlichen Bohrmaschinen, denen die Platten aller Cliquenclassen weichen. Hier habt ihr einen oberösterreichischen Rusticus. Er trägt bodenscheue Hosen. Seinen Rock liefert ihm vielleicht noch heute der Dorfschneider von Ansfelden. Die einschneidendsten politischen, wirtschaftlichen, ja auch literarischen Umwälzungen kommen ihm gar nicht zum Bewusstsein, er ist äusserst linkisch in seinem Verkehr und manchmal befremdend dienstbeflissen. Und doch ein geistiger Aristokrat bis in das Mark der Knochen. Eine unnahbare Vornehmheit zeichnet seine Melodien aus. Es kommt nichts Kleines hervor, wenn der Künstler aus ihm spricht. Lapidare Grösse und sensitivste Zartheit kennzeichnen seine Gebilde. Er kommt uns, wie heute unser Empfindungsleben beschaffen ist, entgegen. Er sagt uns wirklich Grosses. Hat er Recht? Irren wir? Darüber könnte nur das Wissen entscheiden, wie lange und wie intensiv sich seine künstlerische Persönlichkeit in Zukunft geltend machen wird. Macht geht vor Recht – auch in der Entwicklung der Kunst und des Kunstgefühls.
     Wir überlassen hiermit das Wort unserem Mitarbeiter Herrn Dr. Theodor Helm, dessen Ausführungen über das Leben und die Werke Bruckner's unsere Leser gewiss mit Interesse folgen werden.          G. S. [(**)]
                *        *        *
 
   Immer mehr kommt die musikalische Welt zur Ueberzeugung, dass sie auf nicht dramatischen Gebiete neben Brahms in Bruckner den grössten Tondichter der Gegenwart zu verehren hat. Und fast scheint es, als ob die beiden Künstler dazu auserkoren worden [sic], sich in ihrem Streben und Können wechselseitig zu ergänzen. Vor Allem gilt dies von ihren Symphonien. Bei Brahms grundsätzliches und durch meisterliche Technik unterstütztes Formen nach bewährten Mustern, zwingende Logik, klarster Kunstverstand, freiwilliger Verzicht auf starke, äussere Effecte zu Gunsten keuschen, strengen Ernstes, wodurch aber häufig eine gewisse Sprödigkeit entsteht, die Mache entschieden vor der Erfindung hervortretend, die Arbeit stets durch eine Selbstkritik controlirt, welche so zu sagen jede Note auf die Goldwage legt – bei Bruckner wahrhaft neue, aus dem bisherigen Rahmen kühn herausstrebende Gestaltung, blühende Melodik, strahlende Pracht des Colorits, muthvoll zielbewusste Ansetzung aller Hebel des Effectes, auch der von Richard Wagner für die dramatische Musik gewonnenen, und eben dadurch eine dem Orchester zugeführte ausserordentliche Steigerungsfähigkeit der Tonsprache in dynamischen und Klangwirkungen, im Schaffen weniger aus sorgfältiger Ueberlegung, denn aus augenblicklicher Eingebung, manchmal geradezu improvisatorisch erscheinend, voll genialer Blitze und überraschender Combinationen, aber auch nicht frei von jähen, räthselhaften Absprüngen . . . . . . .   Stellt man die zwei Meister nebeneinander prüft man vorurtheilsfrei ihre Vorzüge und Schwächen, so wird man gestehen müssen, dass erst beide zusammen: Brahms und Bruckner den höchsten Ausdruck der Zeit auf absolut symphonischem Gebiete aussprechen, wobei freilich dem Unterzeichneten die überlegene Genialität Bruckner's ebenso ausser Frage erscheint, wie die überlegene Formgewandtheit Brahms. Die grosse contrapunktische Meisterschaft mag wohl auf beiden Seiten gleich sein. Um aber eben diese contrapunktische Meisterschaft zu erringen, hat vielleicht kein hervorragender Componist eine strengere Schule durchgemacht, mit grösserer Ausdauer unablässig an seiner eigenen Vervollkommnung gearbeitet, als unser Bruckner. Nachdem er – am 4. September als als der Sohn eines armen Dorfschullehrers zu Ansfelden in Oberösterreich geboren – mit 12 Jahren vollig verwaist dastand, war er freilich auf unermüdlichen Lerneifer angewiesen, wollte er es zu etwas Rechtem in der Welt bringen. Dass er gleich nach dem Tod des Vaters als Sängerknabe ins Stift St. Florian aufgenommen wurde, war insofern für seine weitere künstlerische Laufbahn entscheidend, als er sich nun längere Zeit fast ausschliesslich mit Kirchenmusik zu beschäftigen hatte, eine Thätigkeit, die gewiss nicht den persönlichen Neigungen des aus Ueberzeugung frommgläubigen Knaben und Jünglings widersprach und dem reifen Manne erst späterhin ihren reichsten Segen bringen sollte. Denn wie es ein grosses kirchliches Werk – die 1863–64 in Linz componirte D-Moll-Messe – war, in welchem Bruckner den ersten Höhepunkt seines musikalischen Schaffens erreichte, so ist auch ein gut Theil des gewaltigen Symphonikers Bruckner aus dem begeisterten Sänger der Kirche hervorgewachsen. Fast in keiner Bruckner’schen Symphonie fehlen gewisse auffallend kirchliche Wendungen, welche weit entfernt, in den Tonsatz ein fremdartig störendes Element zu bringen, demselben vielmehr ein individuelles, nur diesem Componisten eigenes Gepräge verleihen und nebenbei den Ernst, die Würde des Eindruckes mächtig erhöhen. So, wenn plötzlich in die thematische Entwicklung der bisher gehörten Motive als cantus firmus eine [sic] felsenfester Choral tritt (besonders grossartig in den ersten Sätzen der 3. und 4. Symphonie, sowie in den Finale's der 1. und 5.) oder wenn in langen feierlichen Orgelpunkten, wie sie erst Bruckner so eigenthümlich sprühend in die Symphonien eingeführt, zu einem Hauptgedanken zurückgeleitet oder der Schluss eines Satzes vorbereitet wird. Bezüglich dieser hochcharakteristischen Orgelpunkte bietet jede der gedruckten Bruckner'schen Symphonien (Nr. 1, 2, 3, 4, 7, 8), besonders in ihren Ecksätzen die interessantesten Beispiele. Mitunter wählt auch Bruckner ausgesprochene kirchliche Themen: wir erinnern an die innige, mit »Misterioso« überschriebene dritte Melodie im Adagio der D-moll-Symphonie, an den schönen Choral, welchen der Componist im Finale der »Siebenten« dem muthig aufstrebenden Hauptthema gleichsam als den festen Anhalt glaubenskräftiger Zuversicht jedesmal höchst glücklich gegenüberstellt, an die in ähnlichem Sinne wirkenden feierlichen langsamen Episoden in dem kriegerisch erregten Schlusssatz der »Achten«. So recht dem frommen Sinne Bruckner’s entspricht es, wenn er manchmal gar seine schönsten Melodien und aus diesen gewonnene Steigerungen gleichzeitig in einem kirchlichen und einem symphonischen Werk verwendet. Es dürfte sich verlohnen, diesfalls die letzte Abtheilung des berühmten Tedeums mit dem nicht minder berühmten Trauer-Adagio der siebenten Symphonie zu vergleichen. Die poetische Absicht scheint klar: ein dankbarer Aufblick zur Gottheit, dass sie es dem Künstler vergönnte, zu ihrem Lob und Preis so Herrliches zu schaffen. Was Bruckner über die Partitur seines Tedeums schrieb: »Omnia ad majorem Dei gloriam«, das darf ja in ähnlichem Sinne als der eigentliche Wahlspruch seines Lebens und Schaffens gelten, wie C. M. v. Weber's oft citirtes »Wie Gott will!« Welcher genauere Kenner der Beethoven'schen Muse denkt hier nicht auch noch an den unvergleichlichen, erhabenen »Heiligen Dankgesang eines Genesenen in der lyrischen [sic] Tonart« aus dem A-Moll-Quartette op. 132?     Doch wir sind nun mitten in die Bruckner'sche Tonwelt gerathen, während die Leser vielleicht vorerst noch biographische Mittheilungen erwarteten. Leider dürfte gerade das Interessanteste, was diesfalls mitzutheilen wäre, schon in weiten Kreisen bekannt sein. So die Leidensgeschichte von Bruckner's erster Anstellung 1841 als Schulgehilfe zu Windhag bei Freiberg in Oberösterreich, wo er, um mit seiner monatlichen Besoldung von 2 fl. auch nur dem Hungertode zu entgehen, gar oft auf Bauernhochzeiten und Kirchweihfesten um einen Zwanziger die ganze Nacht zum Tanz auffiedeln musste.
     Die gründlichen Studien, welche Bruckner namentlich bei dem ebenso gefeierten, als gefürchteten Theoretiker S. Sechter betrieb, die strengen Examen, denen er sich von freien Stücken und stets mit dem glorreichsten Erfolge unterzog, die als Ergebnis der letzten glänzenden Prüfung aus dem drei- und vierfachen Contrapunkt von Herbeck, einem der Examinatoren, veranlasste Berufung Bruckner’s nach Wien — als exspectirender Organist in der Hofcapelle und später als Professor des Orgelspieles, der Harmonielehre und des Contrapunktes am Conservatorium . . . . auch das Alles dürtte nur einem kleinen Theile der Leser noch fremd sein.*)
[Fußnote: "*) Gelegentlich jenes letzten Examens liess sich Herbeck, der ehrgeizige Musiker, dem gewiss Niemand ein starkes Stück Selbstgefühl absprechen wird, die Worte entschlüpfen: "Wenn ich den zehnten Theil von dem wüsste, was Der da (Bruckner) weiss, wäre ich glücklich." "]
     Dagegen herrschen im Publicum — wie wir uns wiederholt selbst zu überzeugen Gelegenheit hatten — noch allerlei Irrthümer und Missverständnisse in Bezug auf die Entstehung und die ersten Aufführungen der bedeutendsten Bruckner’schen Werke. Nachstehende Darstellung des wirklichen Sachverhaltes dürfte daher vielen Kunstfreunden willkommen sein. Bis zum Jahre 1865 hatte Bruckner mit Ausnahme des vom Linzer Männergesangverein preisgekrönten «Germanenzug» (Männerchor mit Orchester) fast nur Kirchenmusik geschrieben, darunter die bereits erwähnte hochbedeutende D-moll-Messe. Nun drängte es aber den Componisten mächtig, einmal seine Subjectivitât und die ganze ungeheure Summe der in ihr seit Jahren angesammelten musikalischen Kenntnisse in einem nicht an's Wort gebundenen grossen Instrumentalwerke auszusprechen. So entstand 1865—1866 unmittelbar vor und nach den denkwürdigen Münchener «Tristan»-Darstellungen, welche Bruckner für ewige Zeit zum glühenden Verehrer Wagner's machten, der Koloss seiner ersten Symphonie in C-moll! Bruckner nahm damal den vollendeten Theil der Partitur nach München mit und erinnert sich noch heute mit einer Art humoristischen Behagens, welch' zwiespältigen Eindruck das Werk auf Hans v. Bülow hervorbrachte: hier rückhaltslose Bewunderung der grossen Schönheiten und gleich darauf helles Entsetzen über die beispiellosen harmonischen und contrapunktlichen Wagnisse! Nun, unser Tondichter, der sich vielleicht in keinem anderen Werke so wenig um Publicum und Kritik kümmerte, liess sich durch die Bedenken des genialen Dirigenten nicht im mindesten anfechten, sondern hegte jetzt nur einen heissen Wunsch: seine kühne «Erste» in tönende Wirklichkeit übertreten zu lassen. Dazu kam es aber erst 1868 in Linz, und nach den bescheidenen Kräften des ausführenden Orchesters konnte der Eindruck auf die Hörer nur ein verwirrender sein; Bruckner erkannte dies trotz des seiner persönlichen Beliebtheit gespendeten aufmunternden Beifalls gar wohl, und er war dadurch nahe daran, an sich völlig irre zu werden, ja sogar – vielleicht noch von anderen Sorgen bedringt — der Nacht des Wahnsinns zu verfallen. Da fand er sich und seine künstlerische Zuversicht wieder als gläubiger Christ in einer erhabenen religiös-musikalischen Aufgabe, in der zweiten und grossartigsten seiner Messen (F-moll), die er nun um Weihnachten desselben Jahres (1868) vollendete.
     Es bezeichnet wieder so recht des Künstlers naivfrommen Sinn, dass er im Dankgefühl für die ihm «von oben» gewordene geistige Wiedergeburt, zwei der schönsten Stellen des Benedictus, bezüglich Kyrie der F-moll-Messe in das Andante, bezüglich Finale seiner zweiten Symphonie (wie die erste aus C-moll geschrieben) aufnahm. Unbegreiflich, dass eben diese zweite Symphonie, gegenüber der Vorgängerin um so vieles klarer, einfacher, verständlicher gehalten, aber, wie die erste, ein Prachtwerk an melodischer Erfindung und orchestraler Kraft, von den Wiener Philharmonikern 1872 einfach für unaufführbar erklärt wurde. Die Herren widerlegten sich bald darauf selbst, indem sie die Symphonie – und zwar mit glänzendem Erfolge – doch spielten, aber freilich nicht in einem ihrer Abonnement-Concerte, sondern in einem von Bruckner zum Schlusse der Weltausstellung veranstalteten eigenen Fest-Concerte am 26. October 1873. (In die Abonnement-Concerte der Philharmoniker gelangte Bruckner's «Zweite» erst 21 Jahre später in der laufenden Saison, am 25. November 1894: mit welch' tiefgehender Wirkung, ist bekannt).
     Als Entstehungszeit der zweiten Symphonie ist jedenfalls der Anfang der Siebziger Jahre anzunehmen, und Bruckner war damals so im Schaffenseifer, dass er der kaum vollendeten «Zweiten» sofort die «Dritte» in D-moll folgen liess, welche sich (noch vor jenem «Weltausstellungs-Concerte») so sehr der persönlichen Anerkennung R. Wagner’s erfreute, dass sie den Componisten ermuthigte, seine neueste Schöpfung dem von ihm über Alles verehrten Bayreuther Meister zu widmen.
     Als die sogenannte «Wagner-Symphonie» Bruckner's hat sich seither diese D-moll-Symphonie in den verschiedensten Musikstädten mehr oder minder durchgesetzt; sie ist zur Zeit das einzige Werk des Componisten, das auch (in einem Lamoureux-Concert) zu Paris aufgeführt wurde. Dass das Wiener Publicum mit der grossartigen Schöpfung bekannt wurde, ist das Verdienst von Bruckner’s treuem Gönner, J. Herbeck, der die Symphonie auf das Programm eines Gesellschaftsconcertes setzte, ohne aber diese Aufführung (16. December 1877) mehr selbst zu erleben. Bruckner hatte damals bereits seine «vierte» Symphonie in Es-dur, die er «die romantische» nannte, vollendet und arbeitete eifrig an einer «fünften» in B-dur. Es hat etwas Rührendes, ihn da in seinem einsamen Musikzimmer zu beobachten, wie er, der von der tonangebenden Kritik und den hervorragendsten Concert-Instituten geflissentlich ignorirte, demgemäss auch von der Masse des Publicums immer weniger beachtete «Sonderling» im Symphonischen Schaffen nimmer ermüdet, ja sich in dem Masse immer mehr in die geliebte Kunstgattung förmlich vergräbt, als die Aussichten auf Anerkennung von draussen sich stets verringern. Spricht dies nicht allein schon für das innerste Bedürfnis des Tondichters, für den entschiedensten Beruf zur Sache, bezeugt es nicht jenes zwingende »Ich muss!», das in Kunstfragen Alles entscheidet, dem zuletzt eine feindliche ganze Welt nicht widerstehen kann?!
     Wir aber mussten, wenn wir uns den fast total vereinsamten und doch rastlos weiterschaffenden Bruckner von 1873 bis Ende 1884 so recht vorstellten, unwillkürlich an die zwei grossen Meister denken, an die er als Symphoniker am Häufigsten und Begeistertsten anknüpfte: an den tauben Beethoven, wenn dieser — in seinen «letzten Quartetten» — «ungestört vom Geräusche des Lebens nur einzig noch den Harmonien seines Inneren lauscht.» (Wagner: «Beethoven», 9. Band der «Gesammelten Schriften», S. 112), und an Richard Wagner, wenn er ferne der lieben Heimat, ohne Hoffnung, je die Aufführung zu erleben, eine «Nibelungen»-Partitur nach der anderen vollendet hinlegt.
     Aber wie für Beethoven's «letzte Quartette» und für Wagner’s «Nibelungen» sollte auch für Bruckner’s Symphonien endlich der Tag ihrer künstlerischen Auferstehung, d. h. ihrer richtigen Wertschätzung seitens der Allgemeinheit, herankommen. Freilich musste hiezu noch eine Reihe von Jahren vergehen. Dass die vierte («romantische») Symphonie des Meisters erstmalig, und zwar unter rauschendem Beifalle eines Theiles der Hörer am 20. Februar 1881 in einem Concerte zum Besten des «Deutschen Schulvereines» unter Hans Richter's Leitung von den «Philharmonikern» gespielt wurde, dass am 11. Februar 1883 zum ersten Male ein Bruckner’sches Fragment — nämlich die Mittelsätze der ungefähr seit Jahresfrist vollendeten sechsten Symphonie (A-dur) — unter der Leitung Director Jahn's in die philharmonischen Concerte selbst Eingang fand, waren vereinzelte Siege des Componisten, die an dem Gesammtverhalten des Publicums wenig ändern konnten.
     Die eigentliche «Umwandlung» (wie sich bekanntlich H. Ibsen in seinem neuesten Drama «Klein Eyolf» ausdrückt) vollzog sich in der Jahreswende 1884/85 in den stürmisch bejubelten Erstaufführungen der grossartigen siebenten (E-dur) Symphonie Bruckners (30. December 1884 durch Capellmeister A. Nikisch in Leipzig, 10. März 1885 durch Capellmeister H. Levi in München) und die dazwischen fallende nicht minder glanzvolle Première des herrlichen F-dur-Quintettes in dem Wiener Hellmesberger-Quartett am 8. Januar 1885. Nun war für Bruckner die Bahn gebrochen, nicht in dem Sinne, als wenn etwa von da an die Opposition gegen sein kühnes Schaffen verstummt wäre, im Gegentheil, sie äusserte sich jetzt erst mit vollen Backen, feindseliger als früher, aber sie verfehlte im Wesentlichen ihr Ziel; Bruckner war von nun an nicht mehr zu ignoriren, vielmehr wurde und wird dem Neuerscheinen jedes seiner Werke mit einem Interesse entgegengesehen, wie es nur ganz das herkömmliche Niveau überragende durch den Stempel der Genialitat gekennzeichnete Schöpfungen erwecken können.
     Seit dem Jahre 1886, in welchem die Erstaufführung des gewaltigen «Tedeum» in den Gesellschaftsconcerten immer nicht enden wollenden Jubel hervorrief und die glanzvolle Erstaufführung einer ganzen Brucknerschen Symphonie in den philharmonischen Concerten, der bereits im Ausland berühmt gewordenen Siebenten in «E», nun vollends die chinesische Mauer durchbrach, hinter welcher sich die besorgte musikalische Gesellschaft Jahre lang wider einen der grössten vaterländischen Tondichter verschanzt hatte, erscheint Bruckner's künstlerischer Spätherbst fast nur wie eine Kette von Triumphen, die ihm seine unerbittlichen, kritischen Gegner nicht mehr  streitig zu machen vermochten.
     Wohl auf dem Gipfel seines Ruhmes stand der 1891 zum Ehrendoctor der Wiener Universität ernannte Meister am 18. December 1892, als seine übermächtig grosse achte Symphonie (die dritte in C-moll geschriebene) nicht nur das Programm eines hiesigen philharmonischen Concertes ganz allein ausfüllte, sondern auch die zahlreichste, andächtigste Hörerschaft herbeizog und von dieser mit enthusiastischer Begeisterung aufgenommen wurde. — Nachdem am  8. April [sic] 1894 Capellmeister Franz Schalk in Graz auch Bruckner's «Fünfte», die contrapunktisch kunstvollste aber eber darum auch schwerst verständliche seiner Symphonien zu überraschend durchschlagender Wirkung gebracht, erscheint von den Bruckner’schen acht Symphonien als Ganzes nur mehr die sechste unaufgeführt. Aber auch ihr Tag wird, ja muss kommen, und darf es überdies mit den bisherigen Erstaufführungen Bruckner’scher Symphonien nicht sein Bewenden haben. Wir halten es vielmehr für gebotene Pflicht jedes seine Aufgabe ernst nehmenden und über die ausreichenden Kräfte verfügenden Orchesterdirigenten, von Zeit zu Zeit die Werke zu wiederholen, das einzige Mittel, sie dem Publicum immer vertrauter zu machen und endlich bei der Masse der Concertbesucher völlig einzubürgern.
     Von der geplanten neunten Symphonie des Meisters (wie die dritte aus D-moll gehend) liegen drei Sätze im Schreibtische Bruckner's vollendet vor; sollte ihm seine schwächte Gesundheit nicht mehr die Ausarbeitung eines Finales erlauben, so würde als solches nach seinem eigenen Wunsche — das Tedeum zu gelten haben. Eine recht merkwürdige Idee, deren praktische Ausführbarkeit sich aber nicht früher beurtheilen lässt, bevor man nicht die drei Symphoniesätze kennt.
     Offenbar wollte hiemit auch der Symphoniker Bruckner als begeisterter Sänger des Herrn von der Kunst Abschied nehmen, und liesse sich in diesem Sinne allerdings ein grossartigeres Chorfinale, als das Tedeum, kaum denken. In die hochinteressanten Einzelnheiten [sic] der Bruckner'schen Werke hier näher einzugehen, würde den uns für diese Skizze zugewiesenen Raum überschreiten. Vielleicht finden wir ein andermal Gelegenheit dazu. Unserer oben in der Parallele mit Brahms zu geben versuchten Gesammtcharakteristik Bruckner's möchten wir aber nur noch Folgendes hinzufügen: So gewiss Beethoven und Wagner als Bruckner's  eigentliche künstlerische Vorbilder erscheinen, so gewiss er den grössten Theil seiner contrapunktischen Kraft aus dem Studium J. S. Bach's schöpfte, von Haus zeigt sich seine lebensfrohe Natur doch noch vielmehr der eines vierten Tondichters verwandt: jener unseres liederreichen Franz Schubert. Beide, Schubert und Bruckner, sind echte Kinder des Volkes, beide waren sogar süddeutsche Schullehrerssöhne, und begannen ihr öffentliches Wirken als ehrsame Schulgehilfen. Nachdem sie später als grosse  Musiker sich in überirdische Regionen aufgeschwungen, kehren sie doch immer wieder mit innigstem Behagen zur lieben Erde zurück, sich am frischen Urquell ihres heimatlichen Volksliedes oder Volkssanges zu erquicken. Man höre die reizend ländlerartigen Scherzo-Trio's Schubert's und Bruckner's; ist es da nicht, als ob sich der gemüthliche Alt-Wiener und der treuherzige ober-österreichische Bauer das herzlichste "Grüss Gott!" zuriefen?! Dieser im besten Wortsinne schubertisirende Volkston ist es wohl ganz besonders, was uns häufig auch in den einfachsten Bruckner'schen Tonsätzen so unmittelbar entzückt und rührt.        Theodor Helm." (***).

Notiz Bruckners »h. M.« [heilige Messe?] nach den morgendlichen Gebetsaufzeichnungen (°).

(7. Philharmonisches Konzert unter Hans Richter mit Werken von Tschaikowsky (6. Sinfonie), Chopin und Mozart (°°)).


Zitierhinweis:

Franz Scheder, Anton Bruckner Chronologie Datenbank, Eintrag Nr.: 189503035, URL: www.bruckner-online.at/ABCD-189503035
letzte Änderung: Dez 11, 2023, 14:14