zurück 14.5.1916, Sonntag ID: 191605145

Das Neue Wiener Tagblatt Nr. 133 schreibt auf S. 14 über Max Reger:
„   Eine Erinnerung an Max Reger.
   
 Der plötzliche Tod des berühmten Komponisten Max Reger veranlaßt mich, ein seltsames Erlebnis mitzuteilen, dessen Zeuge ich vor wenigen Wochen war und das mit dem jähen Hinscheiden des Künstlers in einem merkwürdigen Zusammenhang steht.
     Ich habe Max Reger am 23. März 1916 in Amsterdam kennen gelernt, wo ich mit dem Bruder des Komponisten Felix Nowowiejski, Herrn Rudolf N., Seelsorger an der Pfarre Sankt Rochus, Wien, 3. Bezirk, und meinem Kollegen Professor Franz Ringberger zu musikalischen Studienzwecken weilte. Der uns befreundete Musikverleger M. Sander aus Leipzig kam mit Max Reger gegen Mitternacht in das American Hotel, wo wir nach der erfolgreichen Aufführung der „Kreuzauffindung" mit dem Komponisten dieses Oratoriums Felix Nowowiejski bei einem Glas Bier saßen. Kaum hatte Reger an unserm Tisch Platz genommen, stellte er sogleich an Herrn Rudolf N. in sichtlicher Aufregung die Frage, ob er katholischer Priester sei. Als dieser bejahte, bat Reger dringend, er möge ihm gestatten, ihn eine Viertelstunde in ernster Angelegenheit allein zu sprechen. Die beiden Herren gingen dann an einen Nebentisch und verweilten dort nahezu eine halbe Stunde in tiefem Gespräche. Mit seltsam ernsten Mienen kamen sie zu uns zurück. Rudolf N. rief mich abseits und teilte mir tief ergrifffen [sic] mit, Max Reger habe ihm sein ganzes Herz eröffnet. Er sei von Todesahnungen erfüllt und betrachte es als eine gnädige Fügung des Himmels, hier einen Priester getroffen zu haben. Er wolle noch heute nacht seine Rechnung mit dem Himmel abschließen und habe ihn um seinen geistlichen Beistand gebeten. Ich war ganz bestürzt. Reger saß mir gegenüber, ein Bild strotzender Kraft, und das Amstelbier schmeckte ihm vortrefflich. . . . Sehr erfreut war er, den Komponisten von „Quo vadis?“! kennen gelernt zu haben, den er wiederholt seiner aufrichtigen Wertschätzung  versicherte.
     Wir sprechen, wie begreiflich, über künstlerische Fragen. Felix Nowowiejski, ein begeisterter Verehrer Bruckners, fragte Reger, wie er sich zu Bruckner stelle. Reger wurde tiefernst, erhob sich wortlos und kniete dann mit gefalteten Händen nieder. Wir waren alle ergriffen von dieser stummen und doch so beredten Huldigung vor dem großen, österreichischen Meister.
     Reger sprach noch viel über seine nächsten künstlerischen Pläne. „Mein einziger heißester Wunsch wäre," sagte er, „noch so lange zu leben, um das Vaterunser in großem Stil für Soli, Chor und Orchester komponieren zu können. Die Gnade bitte ich mir von meinem Schöpfer noch aus. Das „Amen" soll der Schlußstein meines künstlerischen Schaffens sein, hier möchte ich noch alles hineinlegen, was meine Seele erfüllt.“
      Keiner von uns ahnte, wie nahe er dem „Amen“ seines Lebens schon stand. . . . Zu später Stunde trennten wir uns. Reger bat Herrn Rudolf N., ihn noch auf sein Zimmer zu begleiten. Am nächsten Vormittage teilte uns dieser tief erschüttert mit, dass er bis 4 Uhr morgens bei Reger war. Der Künstler breitete seine ganze Seele vor ihm aus und bat schließlich, da er seit seinem zwölften Lebensjahre nicht mehr gebeichtet hatte, eine Generalbeichte ablegen zu dürfen, die er dann unter heißen Tränen und in tiefster Reue ablegte. „Ich fühle den Tod in meinen Adern – nun bin ich glücklich, daß ich noch Gelegenheit hatte, für mein Seelenheil zu sorgen." — Mit diesen Worten verabschiedete er sich von Rudolf N. Reger verblieb noch mehrere Tage in Amsterdam, wo er ein philharmonisches Konzert, dessen Programm durchweg aus eigenen Kompositionen bestand, zu dirigieren hatte.
     Als ich gestern die Nachricht von dem Tode des in voller Manneskraft plötzlich dahingegangenen Künstlers erfuhr, kam es mir erst so ganz zum Bewußtsein, welch tiefe Bedeutung dieses merkwürdige Zusammentreffen für den Verewigten gehabt hatte. . . .
Professor Hans Wagner.“


Zitierhinweis:

Franz Scheder, Anton Bruckner Chronologie Datenbank, Eintrag Nr.: 191605145, URL: www.bruckner-online.at/ABCD-191605145
letzte Änderung: Aug 07, 2024, 16:16