zurück 20.12.1864, Dienstag ID: 186412205

3. Fortsetzung der Besprechung der d-moll-Messe vom 30.11.1864 in der Linzer Zeitung Nr. 290 auf S. 1207 (*); der Autor war Franz Gamon (**):
»Messe in D., komponirt von Anton Bruckner,
ausgeführt am 20. November in der Domkirche zu Linz.
IV.
   F. Linz, 19. Dezember. Im Anschlusse an Liszt nennen wir Herrn Bruckners D-Messe als das hervorragendste Werk der jüngsten Zeit auf kirchlichem Gebiete. Herr Bruckner hat hiemit einen entscheidenden Schritt für die Zukunft gethan. Ohne sich an irgend eines der Vorbilder, deren Studium und Einfluß jedoch nicht zu verkennen ist, nachbetend anzulehnen, hat Herr Bruckner seinen eigenen Weg eingeschlagen und dabei bewiesen, daß er die Macht besäße, auf diesem Gebiete, wenn er sich demselben zuwenden wollte, Großes und Maßgebendes zu leisten. Vor allem ist es die Form, welche bei dieser Messe ins Auge fällt. Wir haben schon früher über Palestrinas Kirchenstyl und seine Schule gesprochen. Wenn nun Wagner in seinem Entwurfe zur Organisation eines deutschen Nationaltheaters für das Königreich Sachsen sagt, daß Palestrinas Werke und die seiner Schule nur für den Vortrag durch Menschenstimmen geschrieben seien, ... [...] Wenn nun, wie Wagner sagt, die Orgel (durch diese Aufnahme und Nachahmung der Instrumente) auf das Sinnreichste eine große Mannigfaltigkeit tonlichen Ausdrucks vereinigt, ihrer Natur nach aber virtuose Verzierung im Vortrage ausschließt, durch sinnlichen Reiz eine äußerlich störende Aufmerksamkeit nicht auf sich zu ziehen vermag, und deßhalb das würdigste Instrument ist, warum sollte der mannigfaltige wirkliche Ton des Instrumentes mehr sinnlichen Reiz haben, als der nachgeahmte? wozu dann die Nachahmung? Wenn es aber auch der Kirchenmusik um große Mannigfaltigkeit tonlichen Ausdrucks, der eben in den Instrumenten liegt, zu thun ist, welches Instrument bedingt denn seiner Natur nach und in seiner Stellung im Orchester virtuose Verzierung?« (*).

Mayfelds Besprechung der Messe »A. Bruckner's Concert spirituel« erscheint im Linzer Abendboten Nr. 290 auf S. 3, signiert »D......« (***):
»Feuilleton.
A. Bruckner's Concert spirituel.

   Der einstige Biograf Bruckner's dürfte sich ungefähr so vernehmen lassen: 
"Der 18. Dezember 1864 kann als der Tag bezeichnet werden, an welchem Bruckner's Gestirn zum ersten Male in vollem Glanze leuchtend am Horizonte emporstieg. An diesem Tage brachte die Intelligenz der ganzen Stadt dem gewaltigen musikalischen Feuergeiste, welcher bei ihm, wie bei Beethoven und Schubert, unter einer den oberflächlichen Beobachter wenig anziehenden Hülle sich verbarg, ihre Huldigung dar. Nun folgte (wird hoffentlich der Biograf fortfahren können) Werk auf Werk, und jedes derselben war ein Fortschritt auf der kühn betretenen Bahn."
Es wäre ein Leichtes, hier des Langen und Breiten zu sprechen über Kirchenmusik im Allgemeinen; über die italienischen Heroen derselben, Palestrina und Pergolese; über ihren Verfall im vorigen Jahrhundert, namentlich in Italien und Frankreich; über den Wiederaufschwung in Deutschland; über Haydn und die ziemliche Weltlichkeit von dessen Messen; über Mozart und den todten Imperator Beethoven, endlich über die neu=deutsche Richtung, speziell über Franz Lißt's Graner Messe. Allein einerseits haben diese Blätter keinen Raum für die Züchtung eines endlos sich fortwindenden musikalischen Bandwurmes und andrerseits wäre es wenig anziehend, wiederkäuend aus fremden Werken zusammen zu stoppeln, was Jeder, den die Sache interessirt, dort selbst, und zwar jedenfalls mit mehr Nutzen, nachlesen kann. Besser also, sich, in medias res stürzend, mit der gegenwärtigsten Gegenwart zu beschäftigen.
   Ist es erlaubt, eine Messe in dem Style zu schreiben, wie Bruckner es gethan?
   Auf diese Frage lautet die Antwort: nicht nur erlaubt, sondern unerläßlich geboten, wenn überhaupt ein Werk von wirklicher Bedeutung zu Stande kommen soll.
   In keinem Zweige der Musik haben so viele Flachköpfe gesündigt, als gerade im kirchlichen. Jeder Schulmeister, mit etwas Generalbaß behaftet, glaubt im musikalischen Weinberge des Herrn arbeiten zu dürfen, und wählt die Kirche, wo die an anderen Orten herrschende Gefahr eines lauten Fiasco nicht existirt, zu seinem Tummelplatze.So kommt es, daß die ohnehin schon zum Ueberdruße breit getretenen, stereotypen Geleise der Kirchenmusik täglich noch mehr ausgefahren werden. Jeder, der gar nichts Geistiges, sondern nur Wasser in seinem Kopfe hat, glaubt, dieses Wasser in die bereit stehende Form gießen zu dürfen, und meint dann, weil man eben eine gewisse Form sieht, daß auch ein ganz respektabler Inhalt anerkannt werden müsse. Er glaubt's, und die Welt, wie sie nun einmal ist, glaubt's mit ihm. Die Welt im Allgemeinen, und vor Allem die Leute vom Fach, hängen am Alten. Das Ueberlebte gilt als das Wahre; die Trivialen, Geist- und Gedankenlosen geriren sich als die Priester des Heiligthums. Mit ihnen gilt es einen Kampf Schritt um Schritt; öfters überfluthen sie wieder das ganze Terrain und Alles scheint verloren. Allein es geht dennoch, wenn auch langsam, wenn auch für nicht scharfe Augen unmerklich, vorwärts. Der Anstoß, den das einzelne Genie einmal gegeben, das Neue, was es einmal entdeckt hat, geht nie wieder ganz verloren. Dieß ist in jeder Wissenschaft und in jeder Kunst, so auch in der Musik, der Trost gegenüber den mit der Welt gleich alten Laudatores temporis acti.
   Wenn der Satz richtig ist, - und er ist richtig - daß nur neue Gedanken zur Composition berechtigen, und daß das handwerksmäßige Erzeugen formgerechter Stücke gar kein Gewinn für die Kunst ist, so ist Anton Bruckner ein vollberechtigter Compositeur. In seiner Messe ist Alles, oder doch das Meiste, neu. - Die musikalische Gelehrsamkeit, von welcher er in den fugirten Sätzen und in der Führung sowohl der Instrumental- als der Vocal-Stimmen glänzendes Zeugniß gibt, ist bei ihm nicht Selbstzweck, sondern nur Mittel zum Zweck. Daß Bruckner's Messe keine ganz mackellose Composition ist, versteht sich bei einem Erstlingswerke von selbst. Allein wie viele Compositeure haben mit einem solchen Werke begonnen? ja, wie viele haben mit einem solchen geschlossen? Die ganze Messe ist in so großartigen Proportionen angelegt, die dramatischen Elemente des Textes sind in so würdiger und dabei hochwirkungsvoller Weise behandelt (man denke z. B. nur an das wahrhaft überwältigende "resurrexit" im Credo und an so viele andere Stellen), namentlich die Polyphonie des ganzen Werkes ist eine so außerordentlich ausgezeichnete, daß der Schöpfer desselben zu den höchsten Erwartungen für die Zukunft berechtigt. Das Staunen und die Bewunderung für Bruckner's Genie wächst, wenn man weiß, daß seine Bekanntschaft mit den Meisterwerken alter und neuer Zeit eine verhältnismäßig sehr geringe ist, und daß er demnach vorzugsweise nur aus sich selbst schöpft. Andrerseits kömmt freilich gerade dieser Umstand ihm sehr zu statten, denn er ist dadurch fast frei von willkürlichen und unwillkürlichen Reminiscenzen und geht in voller Originalität seine eigenen Wege. Wohin diese Wege ihn schließlich führen werden, ist bei seinem ungewöhnlichen Reichthum an Phantasie und bei seinem musikalisch-technischen Wissen schwer voraus zu sehen. Nur dieß Eine dürfte sicher sein, daß er schon in nächster Zukunft das Feld der Simphonie, und zwar mit größtem Erfolge, bebauen dürfte. Auf diesem Felde, und auf dem der Kammermusik, wozu ihn seine hervorragende Kunst in der polyphonen Führung der Stimmen vorzugsweise befähigt, dürften von Bruckner glänzende Bereicherungen der deutschen Musik-Literatur zu erwarten sein. Die Befürchtung Einiger, (welche die hie und da etwas versteckten Melodien in den einzelnen Sätzen der Meße beim ersten Hören nicht sogleich herauszufinden vermochten), daß Bruckner leicht auf Abwege gerathen könne, daß seine Fantasie eine allzu üppig wuchernde sei, welche den Hauptgedanken durch zu viel selbstständig wirkendes Beiwerk verdunkle, diese Befürchtung dürfte ungegründet sein. Die Zeit und die Erfahrung wird schon das Ueberschäumen seiner Fantasie verhindern und die nothwendige Klärung mit sich bringen. Wenn sich die Lianen hie und da einen Baum im Urwalde ersticken, den Urwald selbst ersticken sie doch nicht. Sie sind vielmehr eine seiner Hauptzierden.
   Freuen wir uns also aus voller Seele, daß wir (um ein Göthe'sches Wort zu gebrauchen), einen "solchen Kerl" in unserer Mitte haben! Ebnen wir ihm nach Kräften die Wege, welche für den angehenden Kunstjünger an Glätte der Macadamisirung stets Einiges zu wünschen übrig lassen. Ein Abglanz seines Ruhmes wird dann einst auf Linz zurück strahlen.
D......« (***).

Auch die Linzer Zeitung Nr. 290 brachte (ebenfalls auf S. 1207) einen Bericht über das vorgestrige Konzert (°):
»Linz, 19. Dezember.
   [...] * (Bruckners Messe) hat bereits bei der vor Kurzem in der hiesigen Domkirche erfolgten ersten Ausführung allgemeine Sensation erregt, und die größte Bewunderung aller Kunstfreunde hervorgerufen. Es war daher sehr natürlich, daß sich der allgemeine Wunsch geltend machte, daß dieses Kunstwerk baldigst zu einer zweiten Aufführung gebracht werde, welche gestern Abends im landschaftlichen Redoutensaale erfolgte. Wir verdanken diese zweite Aufführung den freundschaftlichen Bemühungen mehrerer bewährten Kunstfreunde zunächst des Herrn k. k. Kreiskommissärs Moritz von Mayfeld, welcher in seinem edlen Streben alle Einleitungen hiezu getroffen hat. Die gestrige Aufführung wurde durch die Anwesenheit Sr. kaiserl. Hoheit des durchlauchtigsten Herrn Erzherzogs Josef beehrt; ein zahlreich versammeltes sehr gewähltes Publikum lauschte in feierlicher Stille den Tönen dieses Kunstwerkes, und jeder einzelnen Abtheilung folgte die lebhafteste Anerkennung. Wir überlassen es unserm Fachreferenten, über den Werth der Komposition sich näher auszusprechen, und wollen nur noch erwähnen, daß die gestrige Aufführung durch die freundliche Mitwirkung unserer ersten Opernkräfte und vieler anderer Kunstfreunde noch eine höhere Bedeutung erhalten hat.« (°).


Zitierhinweis:

Franz Scheder, Anton Bruckner Chronologie Datenbank, Eintrag Nr.: 186412205, URL: www.bruckner-online.at/ABCD-186412205
letzte Änderung: Feb 02, 2023, 11:11