zurück 11.2.1867, Montag ID: 186702115

Die d-moll-Messe und Bruckners Orgelspiel werden von Ludwig Speidel im Wiener Fremdenblatt Nr. 41 auf S. 5 besprochen:
     »[...] Vor dem philharmonischen Konzerte hörten wir in der Hofkapelle eine große Messe von Anton Bruckner, dem Linzer Domorganisten. Vor Jahren hat dieser Tonkünstler bei dem Altmeister Sechter die Kompositionslehre durchgemacht, und ist aus dieser Schule, die an Strenge und Grausamkeit der Priesnitz'schen Wasserkur vergleichbar, mit glänzenden Fähigkeiten ausgestattet hervorgegangen. In Bruckner's Messe läßt sich diese Schule wohl stellenweise an der Kunst der Mache durchfühlen; was aber die Auffassung des Meßtextes betrifft, so liegt sie von Sechter's Richtung meilenweit ab. Sie ist nämlich wesentlich poetisch, und zwar zu einem großen Theile poetisch im Sinne der Zukunftsmusiker, so daß meistens eben so viel an Musik verloren geht, als an Poesie gewonnen wird. Namentlich macht sich diese poetisirende, schildernde und malende Tendenz im eigentlichen Herzen des Meßtextes, im Credo, bemerkbar; hier geht Bruckner jeder Verlockung zu poetischer Illustration in die Falle. Auf solche Weise geht der Satz der einheitlichen Stimmung verlustig, er zerbröckelt unter der Hand wie Linzer Torte. In grellen Instrumentaleffekten, in unsangbarer Behandlung der Menschenstimme, in harten harmonischen Fortschreitungen leistet Bruckner mitunter das Kühnste, obgleich ihm, was den letzten Punkt betrifft, der oberösterreichische Organist in treuherzigen Sequenzen hin und wieder in den Nacken schlägt. In anderen Sätzen, wie im Kyrie und im Agnus, bleibt er strenge bei der Stange, und aus diesen Stücken leuchtet eine unleugbare musikalische Begabung von nicht gewöhnlicher Art. Offenbar hat sich bei Bruckner in ein ursprünglich gesundes Kernholz ein fremdartiges Propfreis gesenkt, welches an seinen besten Kräften zehrt. Möge er dieses Gewächs bei der Wurzel fassen und es um seiner eigenen musikalischen Zukunft willen herzhaft herausreißen. Und nun sprechen wir schließlich einen alten Lieblingsgedanken aus, wenn wir Herrn Bruckner wünschen, es möchte ihm gelingen, sich in Wien auf die Dauer musikalisch niederzulassen. Man könnte in Wien diesen zu Linz internirten Tonkünstler, der sich einer fast sträflichen Bescheidenheit befleißigt, an zwei Handhaben fassen: an seinen großen theoretischen Kenntnissen aund an seinem wahrhaft bedeutenden Orgelspiel. Ist keine Kirche für ihn gebaut, kein Lehrstuhl für ihn vakant? Was er als Lehrer sein könnte, wissen wir freilich nicht aus eigener Anschauung; wie er aber die Orgel meistert, haben wir wiederholt erlebt. Auch gestern, am Schluß seiner Messe, setzte er sich an die Orgel und führte ein Thema frei durch. Mit welcher Kraft und Fülle das durch die Kapelle brauste! In virtuoser Behandlung des Pedals hat Herr Bruckner nicht leicht einen Nebenbuhler; er entwickelt darin eine wahre Fingerfertigkeit der Füße. Und dem entspricht seine wunderbare Gewandtheit auf dem Manual, eine Gewandtheit, für die kaum eine Schwierigkeit vorhanden ist. Es liegt zwar nicht in unserer Art, die Kirche so leicht zu Hilfe zu rufen; wenn sie aber einem Manne wie Anton Bruckner die seinen Fähigkeiten entsprechende Stelle anwiese, würde sie nur in ihrem eigenen Interesse handeln.   sp.«


Zitierhinweis:

Franz Scheder, Anton Bruckner Chronologie Datenbank, Eintrag Nr.: 186702115, URL: www.bruckner-online.at/ABCD-186702115
letzte Änderung: Feb 02, 2023, 11:11