zurück 27.11.1872, Mittwoch ID: 187211275

Kritik Franz Pyllemanns zum Konzert vom 15.11.1872 in der »Allgemeinen Musikalischen Zeitung« Nr. 48, Spalte 771:
   »- Doch um auf das Concert selbst zu kommen, so fand es in folgender Weise statt: Zuerst kam die "D moll-Toccata" von S. Bach; als ihr Interpret führte sich der - eigens des Concertes wegen von Dresden hier angekommene -, "Orgelvirtuose" Herr Aug. Fischer bei uns ein: gewiss ein charakteristischer Umstand, dass die Einweihung der Wiener Orgel von einem Fremden und noch dazu von einem Fremden von bescheidenen Rufe - und wie ich glaube hinzusetzen zu dürfen: mit bescheidenem Können vollführt wurde (!). - [...] Als fünfte Nummer des reichhaltigen Programms folgte eine "Improvisation" des Orgelprofessors am Wiener Conservatorium und anerkannt ersten Virtuosen auf diesem Instrumente in der österreichischen Monarchie, des Herrn Anton Bruckner. Der Künstler behandelte zuerst einen Cantus firmus im planen harmonischen Satze, ergriff dann ein dankbares Sechszehntel-Motiv, welches er in toccatenmässiger Weise durchführte und nahm endlich die österreichische Nationalweise (das Haydn'sche Kaiserlied) auf, die er zu kühnen (oft schier tollkühnen!) modulatorischen Expeditionen benutzte. Die Improvisation, welche, beiläufig gesagt, sehr lange - volle 20 Minuten - dauerte, genügte vollständig, um Hrn. Bruckner als einen eminenten Beherrscher der Orgel erscheinen zu lassen; was die Kraft und Schönheit der Erfindung anbelangt, so konnte man wohl mehr von einem so vielberühmten Meister erwarten; es trat viel mehr eine genaue Bekanntschaft mit gewissen neu-deutschen musikalischen Neuerungen als eine an den Grossmeistern der Orgel erstarkte Kunstweise hervor. Wie man sagt, so soll Herr Bruckner diesmal nicht sein Bestes geboten haben; das gleich zu Beginn seiner Improvisation mehrmals aufgetretene "Heulen" eines Tones - wohl eine Folge der nassen Witterung - soll ihn sehr consternirt haben. Es sei darum hievon Act genommen. - [...] Franz Pyllemann.
     (Die Disposition der Orgel folgt in nächster Nummer)« (*).

Bericht über das gleiche Konzert von L. B. Hahn in der »Konstitutionellen Vorstadt-Zeitung« Nr. 327 auf S. 1:
»Aus den Konzert-Sälen.
Selten wohl hat sich die Konzertfluth so unvermittelt rasch und mit solcher Massenhaftigkeit über unsere Residenz ergossen, als heuer. [...] Ein überaus besuchtes Orgelkonzert führte das Ladegast'sche Riesen=Instrument ein [...] Und die Orgel im großen Musikvereinssale? Entspricht sie den Wundermären, die über Größe und Schönheit derselben in Umlauf gesetzt wurden? [... über die Unausgeglichenheit einiger Register und die üblichen "ugendfehler"eines neuen Instruments ...] An Herrn Bruckner besitzen wir jedenfalls einen Organisten von großer Erfahrung und bedeutender Beherrschung des Instruments, welcher sich an Kraft dem Dresdner Gaste, Herrn Fischer, sogar überlegen zeigte, während er uns an Geschmack und Nuancirungsvermögen allerdings bedeutend hinter ihm zurückzustehen schien. Ueber das Programm des Orgelkonzertes haben wir schon seinerzeit berichtet. [...] und [hätten wir] uns gegen eine Wiederholung der monströsen Spielerei Liszt's (Fantasie und Fuge über B. A. C. H.) für alle Zukunft gründlich zu verwahren. [...] L. B. Hahn.« (**).


Zitierhinweis:

Franz Scheder, Anton Bruckner Chronologie Datenbank, Eintrag Nr.: 187211275, URL: www.bruckner-online.at/ABCD-187211275
letzte Änderung: Feb 02, 2023, 11:11