zurück 20.10.1886, Mittwoch ID: 188610205

Kastner's Wiener Musikalische Zeitung, Jg. 1886/87 Nr. 3, bespricht auf S. 43f Bruckners neuerschienene Motetten [Christus factus est [WAB 11], Locus iste, Os justi, Virga Jesse]:
»Kritische Besprechung neu erschienener Gesangscompositionen.
Vier Graduale für Sopran, Alt, Tenor und Bass, componirt von Anton Bruckner. Verlag von Th. Rättig. Wien.
   Diese vier a capella-Gesänge bekunden eine grosse Meisterschaft des Componisten, sowohl was kunstvolle Stimmführung, modulatorischer Reichthum, als auch ebenmässige Abrundung der architektonischen Form betrifft. 
   Das I. Graduale "Christus factus est" (durchgängig 4stimmig [WAB 11]) enthält zwar zu einer gesanglichen Ausführung schwierige Stellen in dem starkmodulirenden Mittelsatze, bei welchem der Componist gleichsam ein Rundreisebillet mit chromatisch-enharmonischer Abstempelung durch das Gebiet der 24 Tonarten genommen zu haben scheint und wenigstens bei seinen Lieblingsstationen aussteigt, aber schliesslich doch wieder glücklich in seine heimatliche Tonart (D-moll), ohne Schaden genommen zu haben, zurückkehrt. Besonders schön und stimmungsvoll mag der ppp in Dur verklingende Schluss "Quod est super omne nomen" wirken.
   Das II. Graduale ("Locus iste") trägt ein weniger kunstvolles Gepräge als sein erstes Geschwister, aber es wird den Zuhörer durch seine einfache Haltung und die ihm innewohnende innige Empfindung einnehmen, abgesehen, dass übrigens der Sopran sehr melodisch behandelt wurde.
   Das III. Graduale ("Os justi") führte der Componist in der lydischen Kirchentonart durch. [... keine modulatorischen Exkursionen, Erweiterung bis zur Achtstimmigkeit, schwieriger fugierter Mittelsatz, das "Alleluja"-Unisono sei] eine gute Idee, aber meines Erachtens schwächt dieses Unisono die Wirkung des vorhergegangenen 6stimmigen Schlusssatzes ab; es klingt auffallend leer und unbefriedigend, wenn vorher in üppiger Vielstimmigkeit geschwelgt wurde und nun schliesslich das Ganze einstimmig, ohne harmonische Unterlage, ausklingt. Dieses ist zwar nur meine subjective Anschauung - im Uebrigen halte ich dieses Graduale für ein sehr beachtenswerthes Kunstwerk.
   Das IV. Graduale ("Virga Jesse floriut") [sic!] bewegt sich wieder in den von dem Componisten anscheinend besonders beliebten [sic] kühneren Modulationen, hat aber schöne Momente. Besonders gut gefiel mir das in edler Verklärung ausklingende "Alleluja" am Schluss. - Wer die Mühen der Einstudirung dieser vier Graduale, die sich nicht nur ausschliesslich für den kirchlichen Gebrauch eignen, sondern auch als interessante Concertnummern zu betrachten sind, nicht scheut, dem werden sie gewiss einen künstlerischen Genuss bieten, denn neben technischer Vollendung zeigen [sic] sie auch von tiefem, gemüthvollem Eindringen des Componisten in seine gewählten lateinischen Kirchentexte, die er durch seine Musik zu veredeln, zu vergeistigen wusste.
   (Schluss folgt.)« [vermutlich über andere Werke, vielleicht mit einer Signatur?] (*).

Auf S. 46 im selben Heft wird angekündigt, daß auf dem Programm des am 11.1.1887 in Dresden stattfindenden Konzertes die 7. Symphonie steht:
»Dresden. Programm der philharmonischen Concerte: [...] IV. (11. Jänner). [...] Symphonie Nr. 7 E-dur (neu) von Bruckner [...]« (**).


Zitierhinweis:

Franz Scheder, Anton Bruckner Chronologie Datenbank, Eintrag Nr.: 188610205, URL: www.bruckner-online.at/ABCD-188610205
letzte Änderung: Feb 02, 2023, 11:11