zurück 30.12.1892, Freitag ID: 189212305

Kritik der 8. Symphonie von einem Freund Paumgartners in der Wiener Zeitung Nr. 298 (Wiener Abendpost) auf S. 5f, signiert »dr. h. p.«:
"               Concerte.
     Die Aufführung der neuen (achten) Symphonie von Bruckner im vierten philharmonischen Concerte war jedenfalls das bedeutsamste musikalische Ereigniß der letzten Zeit in Wien. Wir waren leider durch Erkrankung verhindert, die Symphonie anzuhören. Ein geistvoller musikalischer Freund schreibt uns hierüber Folgendes:
     "Vor einem Vierteljahrhundert trat Anton Bruckner in die Wiener musikalische Welt, und es ist ein nie zu übersehendes Verdienst Johann Herbecks, diesen ungewöhnlichen Mann, nachdem der Zufall die beiden Männer sich hatte begegnen lassen, den kleinlichen und bedrückenden Verhältnissen, denen er zu erliegen drohte, entrissen und ihn mit dem Musikleben Wiens, der Heimstätte der Heroen dieser Kunst, in dauernde Verbindung gebracht zu haben. [... allmählich steigende Anerkennung ...]. Es ist eine nicht wegzuläugnende Erscheinung, daß die noch nicht gereiften, aber frischen geistigen Organe des heranwachsenden Geschlechtes das wahrhaft Neue einer Erscheinung sicherer zu erfassen vermögen als das sicher fühlende Urtheil des gereiften „Kenners“, welcher zunächst nur diejenigen Elemente herausfühlt und hört, welche den Zusammenhang dieser Erscheinung mit früheren verwandten und ihm wohlvertrauten bestätigen. Gegen die Thatsache, daß die Hervorbringungen gewisser Individualitäten in den Herzen der Jugend einen besonders lauten Wiederhall [sic] finden und deren Empfindung besonders lebhaft berühren, gibt es keine wirksame Appellation.
     So konnte es geschehen, daß die Philharmoniker, ohne auf eine beachtenswerthe Opposition zu stoßen, unter lebhafter Spannung der Zuhörer eine Symphonie von Bruckner als einzige Nummer auf das Programm setzen konnten. Bruckner ist auch durchaus der Mann, der es verdient, einmal allein zu Wort zu kommen. Seine Vergangenheit als Componist bietet die Gewähr, dass er bei einer bedeutenden Gelegenheit auch etwas Außergewöhnliches werde zu sagen haben.
     Bruckners C-moll-Symphonie ist ein Werk der Vollreife einer Individualität, aber kein Alterswerk. Weit klarer noch als so manche seiner vorhergegangenen Symphonien, befreit von den intermittirenden Pulsschlägen, welche den vollen Genuß manches Satzes aus seinen früheren Symphonien gefährden, in allen Theilen auf machtvollen oder süß in die Seele sich singenden Themen aufgebaut, ist Bruckners Werk der Ausdruck einer starken musikalischen Individualität, einer scharf profilirten, sich von allen Vorgängern und Mitstrebenden abhebenden Erscheinung. Bruckners Melodik nicht als eine ihm völlig eigene, in ihrem Kerne nur aus seiner Individualität geschöpfte anzuerkennen, wird künftighin nicht mehr möglich sein. Zu viele sind schon von ihrem Geiste, von der ihr entströmenden Empfindungswelt berührt und haben sie als ein Unverlierbares in sich aufgenommen. Das Singen und Weben der Mittelstimmen, deren ausschweifendste Combinationen noch immer von Phantasie und echt musikalischem Geiste erfüllt sind, ein Orchestercolorit, welches in sicherer Vertheilung das Ganze in Glanz und erwärmendem Wohllaut erklingen läßt, vollenden den Eindruck einer aus dem Vollen schöpfenden musikalischen Natur.
     Wir wären in Verlegenheit, einem der drei Sätze, welche dem Finale vorangehen, den Vorzug einzuräumen. Auf die völlig neue, durch keine Beschreibung auch nur anzudeutende Eigenthümlichkeit der Stimmung des ersten Satzes in C-moll möchten wir doch besonders hinweisen. Ein edles Pathos durchdringt dieses vollendet formschöne Gebilde, markig und herzbewegend erklingt die Klage einer großen Seele. Aber um die kräftigen Grundformen dieses Satzes wie der folgenden schlingen sich jene weichen Schleier, welche, das Herbste verhüllend, sich über alle Gebilde echt süddeutscher Künstler ausbreiten. Wir haben um so mehr Grund, in Bruckner einen echt österreichischen Tondichter zu feiern, als sich in ihm nur das Vornehmste seines Stammes verkörpert und er in seinem künstlerischen Thun und Empfinden völlig frei ist von verfälschenden Zusätzen eines banalen Autochthonenthums. Ahnenreich treten uns seine Tongestalten entgegen, und trotz seiner modernen Ausdrucksweise will uns die Empfindung einer geheimen Continuität mit den Gestalten aus der fernsten Vergangenheit der Donau=Gegend nicht verlassen.
     Bei der letzten Aufführung der Philharmoniker stellte sich der intimste Contact zwischen dem Componisten und dem Publicum her. Nicht mehr befremdend wie ehemals wirkte die Tonwelt Bruckners auf die Hörer, welche dem Künstler jenes Maß von Vertrauen und Eingehen auf seine Eigenart willig entgegenbrachten, ohne welche eine bestimmender Eindruck nicht hervorgebracht werden kann. Schwer und leicht zugleich machten es die Philharmoniker dem Publicum, solches Vertrauen zu fassen. Schwer durch die Vertheilung eines Programmes, in welchem mit den morschen Knochen abstracter, möglichst leerer Begriffe in wenig einladender Weise geklappert wurde, leicht durch eine Aufführung, welche durch das mächtige Erfassen der großen Intentionen des Componisten, durch liebevolles und verdeutlichendes Eingehen auf die zahllosen Details und durch zauberhaften Wohllaut des Klanges zugleich einen Ehrentag unseres unübertroffenen Hans Richter bedeutet."
     Von großem Interesse war das erste außerordentliche Gesellschaftsconcert durch die Aufführung des Verdi'schen Requiems [... ab hier wieder Paumgartner, über weitere Konzerte ...]    dr. h. p." (*).
 

[Vermutlich] erster von Johann Strauß vorgeschlagener Ersatztermin für ein Treffen mit Bruckner und Goldschmidt (**).


Zitierhinweis:

Franz Scheder, Anton Bruckner Chronologie Datenbank, Eintrag Nr.: 189212305, URL: www.bruckner-online.at/ABCD-189212305
letzte Änderung: Mai 14, 2024, 8:08