zurück 26.7.1893, Mittwoch ID: 189307265

Artikel über die Wiener Konzertsaison, darunter die Uraufführung der 8. Symphonie [am 18.12.1892], in der Neuen Zeitschrift für Musik Nr. 30 auf S. 323f, (signiert »F. W.« [Felix Freiherr von Wartenegg (*)]):
»           Correspondenzen.
                                              Wien.
     Die philharmonischen Concerte, welche lange nach Ostern mit einer außer dem Abonnement veranstalteten Aufführung von Beethoven's neunter Symphonie ihren Abschluß fanden, machten uns dieses Jahr mit einer größeren Anzahl von Novitäten bekannt, als wir es von diesem Concertinstitute gewöhnt sind. [...]
     Das Programm des vierten philharm. Concertes hatte das Ungewöhnliche, daß es nur in einem einzigen Orchesterstück, A. Bruckner's "Achter Symphonie" in ihrer erstmaligen Aufführung bestand. Wie bei allen Bruckner'schen Symphonien die Tonsätze in kleiner Form die besten sind, ist auch hier das Scherzo durch seine übersichtliche motivische Arbeit und seinem [sic] gesunden Humor der einzige Satz in dieser ganzen Symphonie, dem uneingeschränktes Lob gebührt. Die übrigen Sätze sprechen viel und sagen wenig. Hohles Pathos im ersten Satze, langathmige Sentimentalität im Adagio und lärmender Jubel bei überladenener Orchestration im Finale. Das, was alle diese Sätze miteinander gleich haben, ist der Mangel an Styleinheit und thematischer Zusammengehörigkeit. Manche von den kleineren Tongebilden, die in einer langen Musikphrase plötzlich gehört werden, sind von entzückender Schönheit, werden aber bald wieder durch Minderwerthiges, das mit dem Vorhergehörten in gar keiner Verbindung steht, verdrängt. Bruckner besitzt eben mehr Einfälle als Gedanken; der Unterschied dieser beiden besteht darin, daß die ersteren für sich selbst bestehend lose aneinander gereiht werden, während die letzteren eine logische Weiterentwicklung mit einem hieraus sich ergebenden Schluß bedingen, die das Ganze zu einem formgerundeten Geistesprodukt macht. Dieser Mangel an ausgeprägten Formen, der dieser Symphonie anhaftet, ist es aber, der den Fachmusiker bei ihrem Anhören unangenehm berührt und ihm das kleinste Tonstück von J. Brahms und M. Bruch künstlerisch=reifer erscheinen läßt, als die größte Symphonie von Bruckner, denn ohne Formbeherrschung ist ein Künstler ersten Ranges undenkbar.
     Daß die moderne Symphonie=Literatur auch bei Verwendung der complicirtesten Ausdrucksmittel dennoch formklare und allgemein verständliche Tongebilde hervorbringen kann, erfuhren wir in dem fünften philharm. Concert, welches mit der symphonischen Dichtung "Tod und Verklärung" von Richard Strauß eröffnet wurde, das [...] vielen Beifall erhielt, der jedoch nicht wie bei Bruckner's Symphonie nur der Person des Componisten galt, sondern dem Werke, seiner Vorzüge wegen. [... kurz über die weiteren Werke und die temperamentarme Solistin, die] mehr mit der Clavierpädagogik als in der Virtuosenlaufbahn eine gesicherte Zukunft finden dürfte.
                          (Fortsetzung folgt.)
[Signatur am 27.9.1893:]                       F. W.«.


Zitierhinweis:

Franz Scheder, Anton Bruckner Chronologie Datenbank, Eintrag Nr.: 189307265, URL: www.bruckner-online.at/ABCD-189307265
letzte Änderung: Feb 02, 2023, 11:11