zurück Anfang Oktober 1894 ID: 189410013

"Der Kunstwart", 8. Jahrgang, 1. Heft, bringt auf S. 8f einen mit "K. S." [vermutlich Karl Söhle (siehe S. 11)] signierten Artikel über Bruckner:
"Musik.
     * Anton Bruckners siebzigster Geburtstag regt die musikalische Welt wieder einmal an, sich das Bild dieses Vielumstrittenen zu zeigen.
     Von Bruckner gilt das Wort von der Parteien Haß und Gunst nicht nur im gewöhnlichen, sondern auch noch in dem besonderen Sinne, daß gerade die Gunst sein Bild verwirrte. Zumal von manchen Wagnerianern Wiens gar zu einseitigen Urteils allzu stürmisch gelobt, begegnete er einer mißtrauischen Voreingenommenheit bei den Leuten der anderen Musikparteien.
     Der Mann, der Jahrzehnte lang ohne äußern Erfolg komplizirte Tonwerke und Symphonien auf Symphonien schrieb, Idealist wie Einer, hatte gelernt bei Beethoven, beim alten Bach, dem er seine Meisterschaft im Kontrapunkt verdankt, bei Schubert, dem er in der Art seiner melodischen Erfindung verwandt ist, und nun er vor allem bei Wagner gelernt, ward es sein künstlerisches Hauptbestreben: die Wagnerschen Theorien von der unendlichen Melodie, vom Leitmotiv u. s. w. auf die reine Instrumentalmusik zu übertragen. [... Gedanken genug ...] Aber das ist der Mangel: sie entwickelten sich selten folgerecht weiter; Bruckners eigentümlich sprunghafte, zerfahrene Kompositionsweise verhinderte ein Ausleben der Motive und Themen, wie es die symphonische Form erheischt. [... große Steigerungen, dann Verpuffung, dann neue Klimax ...]
     In Bruckners E dur-Symphonie, besonders in ihrem wundervollen Andante, treten diese Mängel weniger hervor, deshalb ist dieses Werk von ihm das bekannteste geworden. Auch das großartige Tedeum befestigt sich immer mehr in der Gunst des Publikums. Vieles, gar vieles, was Bruckner sonst noch geschaffen, verlohnt aber trotz seiner Mängel gar wohl, daß man ihn, möge man ihn immerhin weniger "erheben", doch "fleißiger läse".
                                        K. S.
     * Neue Notenwerke.  5.
     Das deutsche Lied. Eine Auswahl aus den Programmen der historischen Lieder=Abende der Frau Amalie Joachim [...]"


Zitierhinweis:

Franz Scheder, Anton Bruckner Chronologie Datenbank, Eintrag Nr.: 189410013, URL: www.bruckner-online.at/ABCD-189410013
letzte Änderung: Feb 02, 2023, 11:11