zurück 1.12.1895, Sonntag ID: 189512015

Artikel von Theodor Helm über die 4. Symphonie in der Neuen Musikalischen Presse, Nr. 48 auf S. 2f [irrig im Druck "Nr. 47"]:
"               Bruckner's "Romantische Symphonie"
                        
   von Theodor Helm.
                                          (Schluss).
     Ehe wir den Verlauf unseres romantischen Tongedichtes bis zu Ende begleiten, möchte ich die Leser bitten, zwei in den letzten Notenbeispielen dieses Artikels störende Druckfehler zu verbessern. Es hat im Notenbeispiel 18 (Nr. 47 [24.11.1895], Seite 2 der "Neuen Mus. Pr.") die erste Viertelpause in der Violinstimme einfach zu entfallen. Dagegen hat im Notenbeispiel 19, Takt 1, der die Note a und g verbindende Achtelstrich sich auch auf die nächste Note fis zu erstrecken, dadurch erst wird die richtige Triolen-Figur a-g-fis hergestellt. Wahrscheinlich dürften das die aufmerksamen Leser durch einen Vergleich des mit "fis" überschriebenen Taktes mit dem dieselbe Triolenfigur enthaltenden dritten (bezüglich vierten) Takte schon selbst bemerkt haben.
                          *
     Wir sind in der Analyse des Finale's der Symphonie bis Seite 76, Buchstaben E der Partitur gelangt, von wo an die im Notenbeispiel 19 citirten Motive oder Motivenglieder  ihre liebenswürdigste melodische Ausführung finden. Die Stimmung wird hier heiter, behaglich, man fühlt sich wieder auf's Land, in einen fröhlichen Reigen tanzender Bauern versetzt und gar lieblich begleitet dazu alsbald eine Art Vogelgezwitscher in der unter die Geigen und Clarinetten einerseits, die Oboën und Flöten andererseits nachahmend vertheilten Figur.
[20. Notenbeispiel: 1 Takt mit punktierten Achteln und 32teln (Takt 135 Oboe)]
     Man denkt hier unwillkürlich wieder an Schubert. Das fröhliche Tonspiel verliert sich indess allmählig in ernsten, selbst geheimnissvollen Wendungen. Schier zauberhaft istr die Klangwirkung in den sechs letzten Takten, S. 78 der Partitur, wo die dreigetheilten Flöten immer leiser die im Notenbeispiel 19, Takt 8, (das "bis" eingerechnet: Takt 9) ersichtliche motivische Figur ausführen, während gestopfte Hörner ein lang ausgehaltenes f verklingen lassen, wie aus der Ferne gedämpfter Paukenwirbel ertönt, in den ersten Geigen sich – ppp – der Pizzicato-Sprung ges''-a' [im Original Striche über dem Tonbuchstaben] wiederholt und die Bratschen, gefolgt von den Clarinetten ein Bruchstück der chromatischen Tonleiter in Achteln murmeln. Diese Achtel vergrössern sich in den Clarinetten – bei zugleich verlangsamter Bewegung – zu Vierteln, währernd Flöten und Oboën die verhauchende Accordfolge es''-ges''-des''' : a'-es''-f'' haben und ausserdem nur noch in der Pauke eine letzte, leiseste Regung zu vernehmen ist, alle anderen Instrumente sind schon früher verstummt . . . . .  Wohin führt nun diese wunderbar geheimnissvolle Ueberleitung, bei welcher Alles im Saale mit verhaltenem Athem lauscht? – Ganz unerwartet stellt sich jeztt [sic] in voller Kraft ein scheinbar neuer titanischer Gedanke ein, der aber eigentlich aus der Fortsetzung des Hauptthema's (Notenbeispiel 17) mit den drängenden Sextolen hervorgegangen. Man hat hier wieder ein Doppelthema von echt Bruckner'scher polyphoner Kühnheit und Grossartigkeit vor sich.
     Während die Holzbläser die Sextolenfigur auf Triolen vertheilt vortragen und daran ein kurzes, aber ermuthigendes neues Motiv reihen (Notenbeispiel 21), beginnen Fagott, Bratschen und Bässe wie früher (S. 71 der Partitur, Zahl 9 vom Buchstaben B gerechnet) mit den ausgehaltenen Halbnoten, denen die stürmischen Sextolen folgen. (Notenbeispiel 22).
[21. und 22. Notenbeispiel: Takte 155 - 158 (je 1 System)]
     Dazwischen schmettern in getheilten Sextolen die Hörner, führen die Geigen ebenfalls in Sextolen die Figur der Holzbläser aus, wirbelt die Pauke und bringen die Trompeten in entgegengesetzter, die Posaunen in gleicher Bewegung das oben mit NB. bezeichnete knappe Motiv [Takt 155] der Flöten und Oboën. Den markig absteigenden und dann wieder aufwärts dringenden Gang haben die Trompeten und Posaunen mit denn Bässen unisono. Es entwickelt sich nun aus obigem kriegerischen Doppelthema eine Partie voll heroischer Streitlust, sie verrauscht, da begrüsst uns überraschend wieder der Orgelpunkt, mit welchem das Finale angefangen, aber jetzt in der Umkehrung der ganzen Noten. Dieser neue Orgelpunkt geht in eine ungemein zarte Episode über, wobei zu den gleichmässig fortklopfenden je vier Achteln [recte: mit Achtelpausen, also Viertelrhythmus] der Violoncello [sic], dem Pizzicato der ersten Geigen und weichen Figuren der mittleren Streichinstrumente die Oboë (zuerst von der Trompete unterstützt) folgendes schwärmerisch klingendes Solo singt:
[23. Notenbeispiel: Takte 229 - 237 (Oboe)]
     Mit edelstem Ausdruck bringen nun die Hörner, Trompeten und Posaunen in Fis das (Notenbeispiel 19 mit NB. bezeichnet!) zuerst von den Holzbläsern gesungene wunderschöne Motiv, das hierauf noch nachdrücklicher die Streicher intoniren und welches dann Anlass zu den reizendsten Imitatiuonen der Holzbläser gibt. Es folgt eine Reprise der ersten Gesangsgruppe des Satzes (den Anfang im Notenbeispiel 18 mitgetheilt) in sinnigster contrapunktischer Verbindung der verschiedenen melodischen Motive, insbesondere die in Zahl 2 des 18. Notenbeispieles ersichtliche Triolen herrlich steigend [sic]. Der überzeugendste musikalische Ausdruck sehnsuchtsvoller innerer Herzensglut! Gehören die eben betrachteten Partitur-Seiten (84 bis einschl. 86) unstreitig zu den melodisch schönsten des Werkes, so die nun weiter anschliessdenden (S. 87 bis einschl. 91) zu den grossartigsten – oder, wenn man will, dramatisch aufgeregtesten. Das gewaltige Hauptthema ist es, welches sich jetzt wieder an die Spitze des Tonsatzes stellt und zwar theils in der modificirten Gestalt, wie Notenbeispiel 21– 22 citirt, theils in seiner ursprünglichen Unisono-Form (Notenbeispiel 12 [sic]). Und nun entbrennt heiss der Sturm der Feldschlacht, man könnte auch hier, wie bei dem unsterblichen Durchführungstheil des ersten Satzes der Eroica an R. Wagner's berühmtes Wort von dem titanischen Weltzermalmer denken, der mit den Göttern ringt. Und merkwürdig ist eigentlich ein einfacher contrapunktischer Kunstgriff, die Gegenüberstellung von einer Triolenfigur in Achteln und in Halbnoten (man vergleiche nochmals Notenbeispiel 17), also eine Verkürzung und Vergrösserung, welche in dieser Partie des Finale's am Stärksten, wahrhaft hochdramatisch wirkt. So stehen bei Bruckner immer technische Meisterschaft und seelischer Ausdruck im innigsten Einklang.
     Die kühnsten contrapunktischen Combinationen wagt unser Meister auf den nächsten Partiturseiten, das ganze Notenmotiv des Hauptthemas und dessen Fortsetzung mit allen möglichen Nebenmotiven verbindend: nur mit grösster Aufmerksamkeit ist es hier dem Hörer möglich, der überreichen Polyphonie von Vergrösserungen, Verkürzungen, Umkehrungen u. s. w. zu folgen.
     Dabei überraschen ganz eigens stimmungsvolle Rückblicke, z. B. auf das Motiv des Jagdgetöns im dritten Satze. Ergreifend blüht auch noch einmal die ganze seelenvolle Melodik der Gesangsgruppe auf. Und nun heisst es endlich scheiden von der romantischen Wunderwelt, die uns der Tondichter hat durchziehen lassen. Wir stehen vor der unbeschreiblich erhabenen, in ihrer Art einzigen Schlussperiode von 65 Takten (6/4 Rhythmus), in welche das Finale der Symphonie ausmündet. Technisch genommen eigentlich nur die genialste unter den orgelpunktartigen Gestaltungen, an welchen gerade dieses Werk so reich ist. Zu den Bebetönen der Streichinstrumente, welche eine Secundenfigur in Sextolen zuerst mit der Gleichförmigkeit  des Pendels, dann immer leidenschaftlicher vibrirend (gleichsam die ablaufende Lebensuhr des Menschen!) wiederholen, erklingt aus dem Ganznoten-Motiv des Satzes, entwickelt in den Bläsern ein Klagegesang, anfangs feierlich ruhig, dann aber unwiderstehlich machtvoll anschwellend, um endlich unter schrillen Wehlauten (das in den Es-Dur-Einklang scharf hineinreissende Ces der Geigen, Flöten und Oboën), aber riesenhaft aufgerichtet den befreienden Schlussaccord zu erreichen.
     Hier lässt uns persönlich das Bild des sterbenden Helden nicht los, dem noch im Tode die Siegesgöttin die Palme reicht. Das Ende des edelsten Gothenkönigs Totila, in F. Dahn's "Kampf um Rom", könnte so componirt werden.
     Professor Schalk hat in der Eingangs dieser Skizze mitgetheilten programmatischen Erklärung diesem wunderbaren Ausgange ein andere, über ein einzelnes Heldenleben hinausreichende, allgemein ethische, auf das Jenseits hinweisende Deutung gegeben. Schliesse man sich der einen, oder der anderen Auffassung an, so viel steht fest: feierlicher hat noch kein Tonwerk ausgeklungen und könnte unter diesen letzten Bläser-Accorden der Vorhang über der erhabensten Tragödie niedergehen." (*).

In der Österreichischen Musik- und Theaterzeitung Nr. 5 wird auf S. 2f von B. Lvovský bemängelt, daß in den Philharmonischen Konzerten nur ein Werk Bruckners [4. Symphonie am 5.1.1896] aufgeführt werde:
"                          Wiener Concerte.
    [S. 2 ...] Also das erste philharmonische Concert wäre glanzvoll absolvirt; wie steht's aber mit den Programmen dieser Saison? Leider ist das meiste beim Alten geblieben und ich „sehe wieder Viele, die nicht da sind”. [... S. 3: über Draeseke, Klughardt, Raff ...] Schliesslich muss es den Musiker befremden, dass Bruckner und Smetana bloss mit je einem Werke im Programme der dieswinterlichen Concerte vertreten sind, während Dvorak mit zwei grösseren Compositionen [...] vertreten ist. [... über den Mascagni-Rummel = Mode-Mumpitz ... Signatur auf S. 4:]    B. Lvovský." (**a).
In der Beilage dieses Heftes, auf S. 11, wird Bruckner zweimal erwähnt:
    " - Herr Jean Louis Nicodé, der bekannte Componist und Dirigent, veranstaltet in der Saison 1895/96 in Dresden vier Orchesterabende, und zwar am 27. November, 18. December, 26. Februar und 18. März, mit ungewöhnlich interessantem Programme; um nebst der schon genannten achten Symphonie Bruckner's nur noch einige Nummern hervorzuheben, nennen wir [...]",
und in einer anderen Mitteilung auf derselben Seite:
    " - Der 18. December d. J. dürfte für die täglich mehr an Zahl gewinnende grosse Gemeinde der Verehrer des greisen Meisters Dr. Anton Bruckner, der bereits drei Sätze seiner neuen neunten Symphonie fertiggestellt hat, ein wahrer Festtag sein. Denn an diesem Tage erfolgt im Dresdener Gewerbehause unter J. L. Nicode's Leitung die Erstaufführung der achten Symphonie des Meisters in Dresden und in Budapest unter Prof. Loewe's Direction die Aufführung der fünften Symphonie." (**b).

Das Prager Tagblatt Nr. 332 macht auf S. 19 auf Theodor Helms Aufsatz über die 4. Symphonie aufmerksam:
"                     Literarisches.
[...]
     – Neue musikalische Presse. Zeitschrift für Musik, Theater, Kunst, Sänger= und Vereinswesen. Herausgegeben von Carl Kratochwill. Die Nummern 46 und 47 enthalten einen Aufsatz über das böhmische Streichquartett, die Fortsetzungen des Artikels über Bruckner's "Romantische Symphonie", Besprechungen des Oratoriums "Der heilige Franciscus" von Edgar Tinel und der Oper "Rothkäppchen" von Boieldieu, ferner Musik= und Theaterberichte." (***).

(1. Philharmonisches Konzert unter Hans Richter mit der 1. Sinfonie von Brahms, Schumanns Klavierkonzert und Dvoraks Othello-Ouvertüre (°)).


Zitierhinweis:

Franz Scheder, Anton Bruckner Chronologie Datenbank, Eintrag Nr.: 189512015, URL: www.bruckner-online.at/ABCD-189512015
letzte Änderung: Sep 22, 2024, 12:12