zurück 1.5.1887, Sonntag ID: 188705015

Besprechung der 5. Symphonie durch E. v. Hartmann in der Musikalischen Rundschau Nr. 22 auf S. 219:
»BERICHTE.
Von Wien.
   Ein am 20. April bei Bösendorfer stattgehabter Musikabend des Herrn Prof. Schalk brachte uns noch als letzten stürmischen Abschiedsgruss der abgelaufenen Saison die erste Aufführung eines gigantischen Werkes, der V. Symphonie in B-dur (Manuscript) von Anton Bruckner, welche, im Gegensatz zu ihren, doch hie und da im Concertsaale, sei es vollständig oder auch nur bruchstückweise auftauchenden sechs Schwestern, bisher nur wenigen intimen Freunden und Schülern des im Auslande mehr als in seiner undankbaren Heimat geschätzten und erkannten Wiener Tonmeisters zugänglich geworden war. Nach einmaligem Hören und Angesichts [sic] einer, wenn auch noch so gewissenhaften, wirkungsvollen und dabei durch die Herren Prof. Schalk und Prof. Zottmann vorzüglich zur Ausführung gebrachten Bearbeitung für zwei Klaviere, welche uns den bei Bruckner selbstverständlichen Klangreichthum des Orchesters nur ahnen lässt, muss es einem späteren Zeitpunkte vorbehalten bleiben, auf das grossartig kühne Werk, dessen erster Eindruck ein überaus mächtiger ist, näher einzugehen. Der riesenhafte Aufbau von Bruckner's V. Symphonie, der darin herrschende Reichthum der Polyphonie und die unerschöpfliche Mannigfaltigkeit der contrapunktischen Kunst, welche hier, namentlich im letzten Satze, eine wahre Orgie feiert, macht ein tiefer begründetes Urtheil unbedingt von der innigsten Vertrautheit mit dem Werke abhängig. Dasselbe kann übrigens im Allgemeinen kaum besser charakterisirt werden, als durch die folgenden Worte, welche wir den von Prof. Schalk dem Programme beigefügten geistvoll ernsten Bemerkungen entnehmen: "Die absolute Objectivität desselben wird den Musikkenner unwillkürlich an Sebastian Bach gemahnen und seiner Beurtheilung einzig allein hier Anknüpfungspunkte bieten. Wie dort, finden wir die in diesem Werke sich darstellende Idee schliesslich identisch mit der musikalischen Urkraft überhaupt, die, unbekümmert um jede Theilnahme, ihre Gebilde bis zu den Wolken thürmt, wieder zertrümmert und neu zusammenballt, in furchtbarem Ergötzen aller Empfindsamkeit spottend." Ohne aber dem Urtheile, welches nur bei näherer Bekanntschaft mit der Symphonie in uns sich bilden und reifen kann, vorgreifen zu wollen, glauben wir schon heute das durch die Contraste seiner herrlich erfundenen Themen fesselnde Scherzo, welches einen wahrhaft seltenen Empfindungsreichthum in sich birgt, als denjenigen Satz bezeichnen zu müssen, welcher sogleich unmittelbarst auf uns wirkte und wohl auch zuerst einzeln, etwa in einem Philharmonischen Concerte, mit voraussichtlich bedeutendem Erfolge aufgeführt werden könnte. Dass der Componist, sowie seine beiden wackeren Interpreten nach jedem Satze die lebhaftesten Sympathie-Bezeigungen ernteten, bedarf wohl kaum der Erwähnung. [...Lob für Schalks Vortrag der Liszt-Sonate ...] eine Leistung, um welche ihn Mancher beneiden könnte, der zum künstlerischen Berufe nichts mitbringt, als die stolze Bezeichnung »Lisztschüler«, den Deckmantel seiner inneren Hohlheit. E. v. Hartmann.«


Zitierhinweis:

Franz Scheder, Anton Bruckner Chronologie Datenbank, Eintrag Nr.: 188705015, URL: www.bruckner-online.at/ABCD-188705015
letzte Änderung: Feb 02, 2023, 11:11