zurück 10.2.1892, Mittwoch ID: 189202105

Artikel Josef Pembaurs über seinen Antrittsbesuch bei Bruckner [September/Oktober 1870] (*a) und die d-moll-Messe in den Blättern für Kirchenmusik Nr. 1, einer Beilage der Neuen Wiener Musik-Zeitung 7 [Musikalische Rundschau] (1892) S.1f:
"         Messe in D-dur
 
  von Anton Bruckner.
Als ich im Herbste des Jahres 1870 aus meiner naturschönen Heimat Tirol in die berühmte Musikstadt Wien fuhr, um zur Fortsetzung meiner Musikstudien das Conservatorium zu beziehen, erschien es mir als eine meiner ersten Aufgaben, mich dem damals ganz besonders durch sein virtuoses Orgelspiel und seine stets überraschenden, zündenden und von genialen Geistesblitzen durchzuckten, freien Phantasien auf der Königin der Instrumente weit berühmten Professor Anton Bruckner als seinen angehenden Schüler des Contrapunktes in pflichtschuldiger Verehrung vorzustellen.
    Frohen Schrittes durchwanderte ich die Währingerstrasse und gelangte endlich, wenn ich nicht irre, an das Haus Nr. 45, in welchem Anton Bruckner damals sein Künstlerheim aufgethan hatte. Nicht ohne Aufregung folgte ich einem fast befehlenden "Herein" und wurde von dem Herrn eines bescheidenen Zimmers, in dem ein einfacher Flügel stand,  unter welchem ein stummes Pedal angebracht war, in der ihm damals besonders sympathischen Toilette, in Hemdärmels, recht freundlich empfangen. Ich weiss nicht, wollte er mir die Verlegenheit abkürzen, die meiner Antrittsrede wohl deutlich genug anhaftete, oder war er von dem herrlichen Herbsttage, der ihm in goldenenSonnenstrahlen die lauterste Freude in sein einfaches Zimmer warf, so entzückt, er nahm mich beim Arme und unterbrach meine kaum begonnene Rede mit den Worten: No, wos sogen's denn, hob' i' nit a prochtvolli Aussicht!
     Nach kurzer Detaillierung der vornehmsten Punkte dieser Aussicht, entliess er mich mit der lakonischen Abfertigung, dass wir uns im Conservatorium wieder finden werden. Mir bleibt diese erste Begegnung mit dem zerstreuten Professor, den seine Phantasie beständig in den Regionen des doppelten, drei- und vierfachen Contrapunktes gefangen hielt, unvergesslich. Heute, nach einundzwanzig Jahren gerade mit dem Studium eines seiner hervorragendsten Werke der Messe für Chor, Solo und Orchester beschäftigt, erscheint mir wieder der bewegliche Mann mit den stets ängstlich kurz geschorenen Haaren, mit der typischen Habichtsnase, welche sein gutmüthiges Gesicht zu einem Vogelgesicht seltenster Charakteristik stempelt. Habe ich ihn auch nicht persönlich vor mir, den nun grau gewordenen mit der Doctorswürde der Wiener Universität ausgezeichneten Componisten, so steckt doch der ganze Mensch und Künstler mit seinen guten und sonderbaren Eigenschaften, mit seinem eigenartigen Gesichte in der genannten Partitur.
     Die d-Messe Bruckner's ist eine Schöpfung so eigenthümlicher Art, theils von so seltener Tiefe der Empfindung in einem nicht immer gefälligen Gewande, dass es für die Beurtheilung sehr schwer wird, auf die vielen Schönheiten derselben aufmerksam zu machen, und das Werk in seiner merkwürdigen Bedeutung in unsere Kirchenmusik-Literatur einzureihen.
     Manche Musik bietet in dieser Beziehung der Kritik gar keine Schwierigkeiten, das ist nämlich die in den gewohnten Geleisen in den alten Formen sich bewegende aber auch selten etwas Eigenes, Neues sagende Musik. Wir begegnen ja auch so vielen Menschen, die kein eigenes Gesicht haben, an denen wir eindruckslos vorübergehen, nach dem charakteristischen und eigenartigen Gesichte drängt es uns aber umzusehen, dasselbe zu beobachten und zu studiren.
     Ein ganz eigenes Gesicht ist nun so wie allen Bruckner'schen Werken auch der vorliegenden Messe, welche aus früherer Zeit seines originellen Schaffens stammt, nicht abzustreiten und hierin liegt wohl der Grund des Widerspruchs, der sich in der Beurtheilung Bruckner's bisher so vielfach geltend machte.
     Diese Messe ist nämlich eigenartig in ihrer Rhythmik, in harmonischer und melodischer Beziehung und ganz besonders in ihrem oft merkwürdig klingenden instrumentalem Gewande.
     Ihre rhythmische Eigenart liegt nicht in einer diesbezüglichen Prägnanz der Themen, ist also nicht direct erfunden, sondern das Resultat einer bewundernswerthen Kunst des Contrapunktirens, welche den breiten pathetischen Gesang ds Chores mit den verschiedenartigsten Figuren und Arabesken umrankt, die wieder unter sich, auf strengster Nachahmung beruhend, die wunderbarsten, manchmal wunderlichsten Gebilde raffinirtesten Contrapunktes entfalten. Der durch diese Compositionsart festgesetzten Aufgabe bleibt das Streichorchester fast ausnahmslos in ascetischer Strenge treu, und erinnert hierin in einzelnen Theilen des Kyrie, in der ausgezeichneten Schlussfuge des Gloria in vielen Sätzen des Credos und des Agnus an unsere besten Vorbilder, die wir in dieser Gattung in Mozart's Requiem besitzen. Bruckner lässt sich aber in seiner contrapunktischen Tendenz nirgends durch Speculation auf Klangschönheit irre machen, das Streichorchester bleibt stets in seiner Unabhängigkeit von den leitenden Gesangstimmen, vermeidet sogar im Basse die Begleitung der Chorstimme und in den Violinen jene, die Singstimmen unterstützende rhythmisch lebhafte aber melodisch mit den Singstimmen gleichlautende Figuration, durch welche unsere ersten Meister und gerade Mozart so packende Wirkung erzielt haben.
     Darin dürfen wir wohl die fremdartige Wirkung des Orchesters begründet finden, welche durch viele ganz eigenthümliche isolirte Stellen der Bläser noch erhöht wird.
     Die auffallende Enthaltsamkeit des Componisten in melodischer Beziehung verleiht dem Werke einen einheitlich ernsten Charakter, welcher in vielen choralmässigen Motiven einen weihevoll kirchlichen Ton erhält. Dafür gewinnen einzelne Stellen durch ihre vorherrschend melodische Gestaltung, das "Gratias agimus", das "Qui tollis peccata mundi" im Gloria, das "Incarnatus" im Credo, das "Benedictus", das "Agnus Dei" und "dona nobis pasem" einen besonders innigenAusdruck tiefer und frommer Empfindung.
     In harmonischer und formeller Beziehung zeigt sich Bruckner durchaus als souveräner Herr aller zu Gebote stehenden Mittel. Seine Sätze sind in ihrer Form ebenso eigenartig wie seine Contrapunktik. Er ist kein Freund vieler Cadenzen, denen wir zum Beispiele so oft im Lohengrin begegnen, und versteht durch überraschende harmonische Wendungen einen ganz originellen Fluss in seine Musik zu bringen. Wenn ich nicht unerwähnt lassen kann, dass mir die orchestrale Einleitung des "et resurrexit" im Credo in ihrer naiven Tonmalerei einen etwas kleinlichen, und an manches heitere Vorbild vergangener Jahre unseres Jahrhunderts erinnernden Eindruck macht, so muss ich dem gegenüber als genialen Kunstgriff in der formellen Gestaltung der Messe ganz besonders das "dona nobis" hervorheben, welches an das ernste und ergreifende Agnus Dei in d-moll anschliessend, in d-dur die Themen des Kyrie wieder bringt, und zwar nicht in einer vielfach beliebten Wiederholung, sondern in neuer, dem Empfindungsgehalte der Textworte entsprechenden Form.
     Die Ausführung dieser Messe bietet freilich viele Schwierigkeiten; die Exponirung der einzelnen Stimmen in Chor und Orchester bedingt eine verlässliche Besetzung aller einzelnen Partien, die man nur von wenigen Kirchenchören verlangen darf. Bruckner, der als Hoforganist der Hofcapelle in Wien seit vielen Jahren wirkende Componist, schreibt eben nicht für das Bedürfniss der Kirchenchöre wie die Componisten des Cäcilienvereines, welche wohl leicht auszuführen, aber auch seicht anzuhören sind. Gerade diesen Herren sei das gründliche Studium dieser, unter den Producten der Gegenwart im Gebiete der Kirchenmusik obenan zu nennenden Messe angelegentlichst empfohlen, zwar nicht damit sie Bruckner nachzuahmen suchen, sondern einen untrüglichen Gradmesser für die Abschätzung der eigenen Werke besitzen sollen.
     Die Herausgabe dieses umfangreichen Werkes in Partitur, sammt Clavierauszug, Chor- und Orchesterstimmen ist ein ganz besonderes Verdienst der Verlagshandlung Johann Gross in Innsbruck. Wir müssen dieses umsomehr anerkennen, als sich die Verlagshandlung durch die Thatsache, dass die Messe sehr schwer ausführbar ist, also kein Cassestück für den Verleger werden wird, nicht abhalten liess, das ausgezeichnete Werk eines der eigenartigsten Componisten der Gegenwart zu veröffentlichen und der gesammten Musikwelt in schöner Ausgabe als Gemeingut zu vermitteln.
        J. Pembaur,
städt. Musikdirector in Innsbruck." (*).

Auf S. 3 wird gemeldet, daß am 31.1.1892 das »Os justi« aufgeführt wurde:
"   Repertoire der Votivkirche im Monate Jänner 1892.
1. Jänner: [...]
31.   "   C. Kempter, Missa in C.
            A. Bruckner,  Grad. "Os justi",
            Mettenleiter,    Offert. "In virtute tua"." (**).

Ein Inserat auf S. 4 informiert über den Erstdruck der d-Moll-Messe (Verlag Joh. Gross in Innsbruck, Partitur, Orchesterstimmen, Singstimmen und Klavierauszug von Ferdinand Löwe [hier ohne den Zeilenumbruch des Originals]:
"Anton Bruckner. | Soeben erschien: | Messe in D für Chor, Soli und Orchester. | Partitur . . . . . . . netto M. 20.– | Orchesterstimmen . . . . . . . netto M. 25.– | Singstimmen (à M. 1.25) . . . . . . .  M. 5.– | (Clavier-Auszug mit Text, bearbeitet von Ferd. Loewe, für M. 5.– netto, unter der Presse.) | Verlag von Joh. Gross in Innsbruck." (***).


Zitierhinweis:

Franz Scheder, Anton Bruckner Chronologie Datenbank, Eintrag Nr.: 189202105, URL: www.bruckner-online.at/ABCD-189202105
letzte Änderung: Okt 03, 2023, 15:15