zurück 22.9.1892, Donnerstag ID: 189209225

Bruckner ist zur Extratafel im Kaisersaal zu Kremsmünster geladen (*).

Das Musikalische Wochenblatt Nr. 39 berichtet auf S. 476f von der Aufführung der 4. Symphonie [am 15.6.1892] und jener der 3. Symphonie [am 9.7.1892]:
"                        Musikbriefe.
[...]
                                                 Wien.

   Von der Internationalen Musik- und Theater-Ausstellung.
                         (Fortsetzung.)
     Als erster fremder Gastdirigent erschien auf der Ausstellung Hr. Frédéric H. Cowen, der bisherige Leiter der Philharmonischen Concerte in London. [... über Cowens Konzert wohlwollend, aber reserviert ...]
     Das nächste Gastdirigenten-Concert interessirte besonders die Wiener localen Kreise: es war nämlich von einem hochgeschätzten jüngeren Clavierprofessor und Concertpianisten geleitet, der aber noch nie den Taktirstab ergriffen hatte. Mit Rücksicht auf ein erstes Debut leistete nun Hr. Ferdinand Löwe – er ist es, von dem wir sprechen – Erstaunliches an imponirender Sicherheit im Ganzen und vielen geistreichen Nuancen im Einzelnen. Einer unserer berufensten und begeistertsten Bruckner-Interpreten am Clavier bewährte er sich nun als solcher auch glänzend an der Spitze des Orchesters. Er hatte in der Mitte des Programms die dritte R. Wagner gewidmete Symphonie seines Lieblingsmeisters (Dmoll) gestellt, die vor anderthalb Jahren bei den Philharmonikern hier so eingeschlagen, und verschaffte derselben nun auch diesmal wieder trotz der begreiflich weniger glänzenden Klangwirkung stürmischen Beifall. Kaum minder bewunderungswürdig als die feinfühlige, in den innersten Organismus der Composition dringende Direction fanden wir das Benehmen des Ausstellungspublicums, das sich ein so langes und complicirtes, vom Hörer die angespannteste Aufmerksamkeit und Geduld beanspruchendes Werk, wie Bruckner's Dmoll-Symphonie, nach der üblichen Tischaufstellung "bei Bier und Braten" bieten liess, während der Aufführung aber auch seine materiellen Genüsse vollständig vergass und förmlich den Athem zurückhielt, um nur ja keinen Ton zu verlieren. Wenn je, so hat diesmal die Idee der "Populären Symphonieconcerte" in Wien einen Triumph gefeiert. [... Beethoven, Berlioz, Wagner ...]
     Es versteht sich, dass Meister Bruckner nach seiner Dmoll-Symphonie stürmisch acclamirt wurde, nach grössere Ehrungen waren ihm aber einige Wochen zuvor für den begeisternden Eindruck seiner Esdur-Symphonie (der sogenannten "romantischen", No. 4) bereitet worden. Diese dirigirte, da sie die Hauptnummer einer Musikaufführung des Akademischen Wagner-Vereins auf der Ausstellung bildete, dessen artistischer Leiter, Prof. J. Schalk. Wie man den HH. Löwe und Schalk die besten, wirksamsten vierhändigen Clavierauszüge Bruckner'scher Symphonien verdankt (die sie theils im Verein, theils Jeder für sich allein ausgearbeitet), so überbieten sie sich auch gegenseitig an Liebe, Verehrung und unermüdlicher Agitation für Bruckner: es wäre schwer, zu entscheiden, welcher von Beiden dessen Werke, sei es am Clavier, sei es im Orchester, schwungvoller, klarer, überzeugender zu interpretiren wisse. Dass uns die Esdur-Symphonie, von J. Schalk dirigirt, einen noch bedeutenderen Eindruck machte und auch ihre Wirkung auf das Publicum eine unstreitig noch zündendere war, mag erstlich an der grösseren praktischen Erfahrung Schalk's liegen (er hatte schon voriges Jahr dem Grazer Musikvereinsorchester dasselbe Werk einstudirt), dann aber auch an der denn doch die Kunstandacht erhöhenden Art der Darbietung – ohne Tischaufstellung und ohne Serviren von Speise und Trank in den Zwischenpausen. [... verständlich ...] Der Enthusiasmus, welchen Bruckner's romantische Symphonie erweckte, spottet aller Beschreibung. Es gab eine allgemeine Ovation für den greisen Componisten, die durch ihre Spontaneïtät – wie selbst Bruckner fern oder gar ablehnend gegenüber stehende Berichterstatter zugaben – etwas Rührendes, Ergreifendes hatte. Das Ausstellungsorchester, das sich mit wachsender Begeisterung gerade in die genannte Symphonie hineingespielt hatte, schien an diesem Abend seine Kräfte verdoppelt zu haben, es bot unter Hrn. Schalk's Leitung, der ganz im Sinne Wagner's aus dem blühenden Werke überall den eigentlichen Melos herauszuholen wusste, unseres Erachtens in diesem Bruckner-Vortrag das Trefflichste und Vollkommenste, was wir von ihm überhaupt in diesem Sommer in der Musikhalle gehört.
     Die, wie erwähnt, meist noch jugendlichen und daher an und für sich sehr spiellustigen Musiker brachten Bruckner gleichsam in einer Art Freudenrausch über ihre eigene ungeahnte Leistungsfähigkeit einen Tusch aus: er kam ganz plötzlich, aus freien Stücken, man wusste selbst nicht, wer ihn anbefohlen habe. Ausser der Bruckner'schen Symphonie, die kaum jemals früher so ganz im Geiste und nach den Intentionen ihres Schöpfers aufgeführt worden sein dürfte, hörte man noch [... Wagner, Liszt, Hugo Wolf (ohne Bühne problematisch, Sänger nicht vertraut)...]
                (Fortsetzung folgt.)
[Signatur einer Anmerkung am 29.9.1892 und des letzten Teils am 10.11.1892:]
                           Dr. Th. Helm." (**).


Zitierhinweis:

Franz Scheder, Anton Bruckner Chronologie Datenbank, Eintrag Nr.: 189209225, URL: www.bruckner-online.at/ABCD-189209225
letzte Änderung: Feb 02, 2023, 11:11