zurück 9.3.1893, Donnerstag ID: 189303095

Das Musikalische Wochenblatt 11 veröffentlicht auf S. 159f Heinrich Schenkers Kritik des 150. Psalms:
"               Kritik.
Anton Bruckner. Psalm 150 für Chor, Soli und Orchester. Wien, Ludwig Doblinger.
     In der Gallerie der Componisten ist Bruckner sicherlich ein Unicum: ein grossbegeisterter Componist ohne genügende Routine. Niemals erhellt der erste Flug, der erste Blick der Begeisterung so weiten Weg, dass mit ihr allein ein erheblich grosser Theil des Kunstwerkes zurückgelegt werden kann. [... Begeisterung braucht nüchterne Reflexion ...] Bei der Mehrzahl der Componisten ist aber diese musikalische  Reflexion mehr oder minder glücklich ausgebildet, sodass der Antheil derselben von dem Antheil der Begeisterung im fertigen Kunstwerk kaum unterschieden werden kann. Bei Bruckner anders. In seinen Werken ist oft sogar der Ort, besser gesagt, der Zeitpunct deutlich zu bezeichnen, in dem seine ekstatische Begeisterung ohnmächtig zurücksinkt. Und daher ist seine Routine in den Wirkungen ungenügend zu nennen. [... über Steigerungen, die mangelnde Verbindung zwischen Themengruppen ....] Druck und Spannung weisen auf Kommendes, auch über den Graben von Pausen hin. Bei Bruckner aber ereignet sich an solchen kritischen Stellen öfter Entlastung, als Druck, und drum ist diese Art von Bindung in seinen Werken selten beweiskräftig.
     Unter günstigeren Umständen, als die soeben geschilderten es sind, würde ich nicht zögern, Bruckner's melodische Erfindung epochal zu nennen. Ueber diesen wichtigen Punct möchte ich mich bei besserer Gelegenheit ausführlicher verbreiten.
     Der 150. Psalm weist die Vorzüge und Mängel des Bruckner'schen Geistes in demselben Maasse auf, wie seine übrigen Werke. [... über das Werk ... die] Fuge entbehrt der Zeichnung, einer motivirenden Linienführung und beweist von Neuem, dass Bruckner, trotz seines contrapunctischen Könnens, im Element der Fuge nicht gedeihen kann. Die Bach'scheste Fuge kann heute nur noch Johannes Brahms dichten. Die Soli, insbesondere das Sopran-Solo, möchte Bruckner doch lieber noch umarbeiten, was ihm gewiss nicht schwer fiele, da sie nicht integrirende Züge des Werkes bilden. Schon der Anfang ist aller Mühen der Umarbeitung werth.
     In der Psalmentechnik, wenn ein solches Wort gestattet ist, schliesst sich Bruckner an keine der bekannten an, hat aber dadurch noch keine neue geschaffen.
     Stünde doch bei Bruckner all Das, was er ausserhalb der Begeisterung sozusagen findet, auf der Höhe Dessen, was er durch sie und in ihr gesteht, wie wäre er als prächtiger Meister zu preisen!
                   Dr. Heinrich Schenker." (*).

Das Konzert vom 11.3.1893 (mit dem »Tafellied«) wird angekündigt

in der Neuen Freien Presse Nr. 10253 auf S. 7:
   " – Samstag den 11. d. findet im großen Musikvereinssaale unter Leitung des Herrn Chormeisters Professor Raoul Mader das Concert des Wiener Akademischen Gesangvereins statt. Ihre Mitwirkung haben zugesagt: die Violin=Virtuosin Fräulein Amalie Mollner, Herr Louis v. Bignio und der Orgel=Virtuose Karl Oßke aus Weimar. Die Vortragsordnung ist folgende: I. Abtheilung: [... Brahms, Weber ...] 3. Dr. A. Bruckner, „Tafellied” (im Jahre 1843 in Kronstorf componirt, neu, erste Aufführung); [...]".  (**)

und in der »Presse« Nr. 68 auf S. 11:
"     –  Der Wiener akademische Gesangverein veranstaltet Samstag den 11. d., Abends halb 8 Uhr, im großen Musikvereinssaale unter Leitung des Chormeisters Herrn Professor Raoul Mader und unter Mitwirkung des Kammersängers Herrn Louis v. Bignio und des Herrn Karl Oßke, Orgelvirtuosen  aus Innsbruck, ein Concert. Das Reinerträgniß fließt dem im Vereine bestehenden Sängerhaus=Baufonds zu. Das Programm ist folgendes: [... Brahms, Weber ...] Dr. A. Bruckner: "Tafellied". (Im Jahre 1843 in Kronstorf componirt. Neu. Erste Aufführung.) J. v. Herbeck [...]." (***).


Zitierhinweis:

Franz Scheder, Anton Bruckner Chronologie Datenbank, Eintrag Nr.: 189303095, URL: www.bruckner-online.at/ABCD-189303095
letzte Änderung: Feb 07, 2023, 0:00