zurück 19.11.1894, Montag ID: 189411195

Besprechung der f-Moll-Messe [am 4.11.1894] durch Max Kalbeck in der Montags-Revue Nr. 47 auf S.1:
„              Concerte.
     
Anton Bruckner’s Große Messe in F-moll im ersten Gesellschafts=Concerte – welch’ ein erbaulicher Anfang der musikalischen Saison! Solchen Glauben haben wir in Israel, d. h. bei den Philharmonikern, nicht gefunden. Ihre Sache wäre es gewesen, den siebzigsten Geburtstag des Wiener Meisters zu feiern, der wie Beethoven neun Symphonien componirt hat – die „Neunte“ ist noch in der Arbeit – dessen allgemeine Bedeutung also auf dem Gebiete der reinen Instrumentalmusik zu suchen ist. Nun hat Bruckner allerdings auch mehrere große Messen geschrieben. Aber keine von ihnen darf für eine Missa in partibus infidelium gelten, wie Beethoven’s Hohe Messe, welcher die Pfeiler der Kirche zu niedrig, deren Wände zu eng sind. Bruckner’s F-moll=Messe gehört in’s Gotteshaus; wer sie in den Concertsaal zu Gaste bittet, zeigt eine Opferwilligkeit an der unrechten Stelle und auf Kosten Anderer. Die Abonnenten der Gesellschaftsconcerte sind ja nicht lauter erlösungsbedürftige, reuige, arme Schächer, die etwa für die Sünden, die sie anläßlich des Strauß=Jubiläums begangen haben, bei Bruckner Buße thun wollten. Weder dem Werke noch seinem Meister wurde durch diese Profanation ein besonderer Gefallen erwiesen. Wir zweifeln nicht daran, daß das reichgegliederte geistliche Tonstück vom erhabenen Chor der Kirche aus auf eine ebenso andächtige wie kritiklose Gemeinde von Gläubigen den tiefsten Eindruck machen kann. Gibt es doch wunderwirkende Madonnenbilder, welche das grelle, unerbittliche Licht des Tages nicht vertragen, während sie im magischen Dämmer einer mit Weihrauchgewölk und Kerzenschein erfüllten Capelle ihrer übernatürlichen Mächte sicher sind! In der ihr zukommenden Umgebung würden die musikalischen Vorzüge der F-moll=Messe sich noch voller entfalten als außerhalb derselben, ihre Schwächen aber von dem weihevollen Nimbus der gottesdienstlichen Feier verdeckt werden. Im Uebrigen mögen die frommen Gemüther sich unter einander vereinigen, ob sie, sobald der Rausch ihrer ekstatischen Begeisterung verflogen ist, das Bruckner’sche Credo noch zu dem ihrigen machen und in sein Gloria einstimmen wollen oder nicht. Darin, daß das Benedictus ein wohlklingender schöner Musiksatz ist, in welchem – bei Bruckner ein seltener Fall! – Inspiration und Arbeit so ziemlich congruiren, kommen ohnehin alle Menschen guten Willens überein. Hier fand auch das Soloquartett, Frl. Chotek, Frl. Kusmitsch, Herr Erxleben und Herr Kraus, Gelegenheit, von seinen prächtigen Stimmen im Zusammenklange Nutzen zu ziehen. Sonst sehen sich die Solisten von Bruckner auf zufällige kurze Exclamationen beschränkt, von denen man nicht immer behaupten kann, daß sie einen Sinn haben. Der Himmel weiß, was es bedeutet, wenn plötzlich eine einzelne Stimme ausruft: qui cum patre et filio (der mit dem Vater und dem Sohne)! Die Vollendung dieses aus dem Zusammenhange herausgerissenen, abgebrochenen Relativsatzes bleibt dem rathlosen Zuhörer überlassen. Vom Chore des Singvereines wurde unter Herrn Director Gericke’s Leitung die F-moll=Messe in kaum zu übertreffender Weise wiedergegeben, und der in einer Loge gegenwärtige Componist war Gegenstand schmeichelhafter Aufmerksamkeiten. [… über weitere Konzerte …]"
[„Max Kalbeck“ ist handschriftlich auf der Kopie vermerkt. Vermutlich ist der Schluss des Feuilletons wie am 17.12.auf Seite 4, dort „Max Kalbeck“ angegeben].


Zitierhinweis:

Franz Scheder, Anton Bruckner Chronologie Datenbank, Eintrag Nr.: 189411195, URL: www.bruckner-online.at/ABCD-189411195
letzte Änderung: Okt 30, 2023, 14:14