zurück 20.12.1895, Freitag ID: 189512205

Kritik Humperdincks zur Frankfurter Aufführung der 7. Symphonie

im Wiener Fremdenblatt Nr. 349 auf S. 7:
„      Theater und Kunst.
[…]
     – In dem schon erwähnten Referate der „Frankfurter Zeitung“ über die dortige Aufführung einer Bruckner’schen Symphonie sagt Engelbert Humperdinck: „Der heutige Abend (18. d.) im Opernhause darf den Anspruch erheben, den bedeutungsvollsten Ereignissen der hiesigen Konzertsaison beigezählt zu werden. Daß Herr Dr. Rottenberg das Wagniß auf sich nahm, mit einer Bruckner’schen Symphonie das hiesige Publikum bekannt zu machen, verdient umsomehr Anerkennung, als ein solches Unternehmen erfahrungsgemäß nur höchst selten sich durch einen spontanen Erfolg selbst belohnt. Auch hier war das Echo, welches das umfangreiche Werk (Nr. 7, E-dur) des greisen Wiener Tondichters in den Herzen der Zuhörer fand, weder ein sehr lautes  noch allgemeines und doch darf man angesichts der unerhörten Ansprüche, welche die seltsam tiefgründige und gestaltenreiche Schöpfung mit ihren gigantesken Formen, ihren langathmigen, oft sprunghaft mit einander verknüpften Perioden und ihrer bald machtvoll eindringlichen, bald bizarr anmuthenden Farbengebung an das Verständniß des Hörers stellt, mit der ihr heute hier zutheil gewordenen Aufnahme im Publikum noch zufrieden sein. Unter den vier Sätzen dieser Symphonie verdient der zweite, ein Adagio von fast transzendentaler Schönheit den herrlichsten Eingebungen der Tonmuse beigezählt zu werden, und schon um dieses Satzes willen lohnt es sich, das ganze fast einstündige Werk aufzuführen. Unverständlich ist es uns, wie man bei Anton Bruckner von einem Uebertragen Wagner'scher Kunstprinzipien auf die Symphonie reden kann. Die Anwendung von vier Tuben und von kühnen Harmonieverbindungen sind doch schließlich Aeußerlichkeiten, die mit dem eigentlichen Wesen Wagner'scher Kunst nichts zu schaffen haben. Um dieses zu erkennen, muß man schon etwas tiefer graben, und ebenso soll man anderseits [sic] auch Bruckner geben, was Bruckner's ist, der in seiner Art durchaus ein Original ist, ebensogut wie Brahms, Schumann oder Mendelssohn“."  (*)

und in der Ostdeutschen Rundschau Nr. 349 auf S. 7: "Theater, Kunst, Schriftthum.[...]     Bruckner's Symphonie Nr. 7, E-dur errang vorgestern im Opernhauskonzert in Frankfurt a. M. einen bedeutenden Erfolg. Engelbert Humperdinck, der in der "Frankfurter Zeitung" darüber berichtet, bemerkt, daß besonders der zweite Satz, ein Adagio von fast transzendentaler Schönheit, den herrlichsten Eingebungen der Tonmuse beigezählt zu werden verdient." (**).
 
Besprechung der Dresdner Aufführung der 8. Symphonie [am 18.12.1895] durch Karl Söhle in der »Deutschen Wacht« (***),
 
durch Herrmann Starcke in den Dresdner Nachrichten Nr. 353 auf S. 3:
"                            Kunst und Wissenschaft.
     † Zweiter Orchester=Abend von Herrn Jean Louis Nicodé. Die allgemeinere Antheilnahme war durch zahlreiche Notizen und Reklamen seit Wochen auf ein in der musikalischen Welt bisher noch unbekannt gebliebenes Werk, auf die 8. Sinfonie von Anton Bruckner, hingelenkt worden, die vorgestern für Deutschland zum ersten Male zur Aufführung gelangte. Zur Einführung der Sinfonie und zum besseren Verständniß derselben hatte man in letzter Stunde sogar eine "Bruckner=Zeitung" ausgegeben, eine Spezialnummer der "Oesterr. Musik= und Theaterztg.", die auf zwölf großen Druckseiten Bruckner's Bedeutung im Allgemeinen und dessen 8 Sinfonie insbesondere behandelte  Der Inhalt der verschiedenen Aufsätze verdient Anerkennung, denn in Manchem sondiren sie den Gegenstand fachmännisch und mit großer Hingebung. Auf welchen Standpunkt soll sich aber der objektive Hörer stellen, wenn ihm hier ohne Weiteres das Messer an den Hals gesetzt wird mit Urtheilen wie: "Bruckner's 8. Sinfonie, eine der großartigsten Schöpfungen aller Zeiten" - "Die Sinfonie ist die Krone der Musik unserer Zeit" - "die weltberühmt (!) gewordene Sinfonie" - oder wenn gar von einer 9. Sinfonie Bruckner's gesprochen wird, die der Komponist im Hinblick auf die Größe des Werkes dem "lieben Gott" widmen wird mit dem wörtlichen Zusatze Bruckner's: "Ob er (Gott) die Sinfonie annehmen wird, weiß ich nicht; für den Fall aber, daß ich die Vollendung des Werkes, von dem die ersten drei Sätze fertig liegen, nicht mehr erleben sollte, bitte ich Gott, mein Tedemn als Schlußsatz zu betrachten, und hoffe, daß Gott, der Allmächtige, in seiner erbarmenden Güte mir die Nichtvollendung des ihm geweihten Lebenswerkes verzeihen möge." Das soll man ernst nehmen, und solches Zeug druckt man „zum besseren Verständniß der Hörer". Die Herren, die solche Dithyramben zu schreiben den Muth besitzen, verletzen nicht nur den Bildungsgrad der Hörer, sie schaden Bruckner auch mehr, als sie ihm nützen. Wenn sie auch noch so ernst mit Bruckner's 8. und 9. Sinfonie sammt seinem Tedeum zum Firmament zu streben versuchen, es geht ihnen am Ende doch wie dem unglücklichen Ikaros, der wie die Engel fliegen wollte und doch keine Flügel besaß — er machte sich wächserne, flog, kam der Sonne zn nahe, fiel und ertrank. Bleiben wir hübsch auf der Erde, Bruckner soll deshalb kein Unrecht geschehen. Mit seinem 8. sinfonischen Werke nimmt er zunächst einen bedeutend höheren Standpunkt ein, als mit der kürzlich hier gehörten romantischen (4.) Sinfonie. Das stimmt von vornhinein sympathisch und achtunggebietend. Der Inhalt des Werkes ist tragisch, von Schwermuth und Trauer erfüll!, obgleich es dem Scherzo nicht an helleren Farben fehlt. Nur das Finale erhebt sich kriegerisch machtvoll und feierlich, als ob es den Sieg über Schmerzen und Leiden verkünden wollte. Den unantastbaren Werth der Sinfonie wird der Musiker in der genialen contrapunktischen Arbeit, in der bedeutungsvollen Behandlung der Themen finden. Bruckner hierin als Meister zu erkennen, wird Niemand schwer fallen  Die Ueberlegenheit, mit der er die Führung der Stimmen bewirkt und jeder einzelnen den eigenen Weg vorschreibt. um das kolossale Gewebe dennoch in den eisernen Klammern der musikalischen Gesetze zu halten, die Kunst seiner Umkehrungen, Vergrößerung und Verkleinerung der Themen bleiben selbst dann noch bewunderungswürdig, wenn die Partitur dem Auge des Lesers mehr Hochachtung abzwingt, als dem Ohre des Hörers. Anders steht es, wenn man das Werk auf seine Eigenart prüft und auf die Wirkung, die es im Einzelnen und Ganzen hervorzurufen vermag. Nur in vereinzelten Fällen wird man hier von persönlichem Charakter sprechen können. Wohl steigen viele individuelle Züge aus dem Werke auf, Gedanken und Ideen von unverkennbarer Schönheit und Größe, aber dominirend bleiben doch Richard Wagner und der größte der Sinfoniker, Beethoven. Der Letztere wird zwar immer das Vorbild und Muster der höchsten sinfonischen Form bleiben müssen, Wagner steht dagegen dieser Kunstgattung fremd gegenüber, sein Genie verweist auf die Bühne, auf theatralische Vorgänge. Es ist infolgedessen nur zu natürlich, daß Das, was uns im Tristan und den Nibelungen natürlich und sachgemäß erscheint, was scenisch richtig und logisch ist, sehr merkwürdig und fremdartig berühren muß. wenn es in sinfonischer Form geboten wird. Dazu die ungeheure Länge und Breite der musikalischen Ausspinnung! Wenn die Freunde Bruckner's die 8  Sinfonie, wie Anfangs bemerkt, „die weltberühmte" benennen, obgleich sie vorgestern zum ersten Male für Deutschland aufgeführt wurde, so gebührt ihr viel eher der Titel der „längsten Sinfonie der Welt". Ihre Aufführung nimmt genau eine Stunde und zwanzig Minuten in Anspruch, das Adagio allein hat die Zeitdauer einer ganzen Mozart'schen Sinfonie. Mag man während dieser übermäßigen, die Nerven vollständig erschöpfenden Dauer auch noch so zahlreichen geistreichen Zügen begegnen, am Ende ist man doch im Innersten zerschmettert und vernichtet und vom Gegentheil dessen betroffen, was als die hehrste Aufgabe der Musik zu betrachten ist: Erhebung aus dem Alltäglichen zum begeisternden Schönen. Auf Einzelheiten der riesigen Arbeit einzugehen, verbietet der Raum, der diesem Bericht gesteckt ist, es mag genügen, hervorzuheben, daß die Aufführung der Sinfonie in zahlreichen Momenten den Beifall der Hörer gefunden hat. Der Totaleindruck hat dagegen nicht befriedigt. Hätte man Bruckner's Partitur schlicht und einfach, ohne den erdrückenden Ballast der Reklame geboten, so wären die Erwartungen nicht auf das Höchste gespannt worden. So ging es Bruckner aber vorgestern wie manch m [sic] Anderen. Er ist der Verhimmelung seiner Freunde erlegen, ungeachtet des großen äußeren Erfolges. Die Aufführunig konnte kaum größer und vollendeter ausfallen. Herr Nicodé hatte sich vollständig in das kolossale Werk eingelebt und gab es mit Hilfe des Chemnitzer städtischen Orchesters in einer Vollkommenheit wieder, mit der er sich von Neuem als Dirigent ersten Ranges bewährte. Zum spezielleren Meisterstück der Direktionskunst gestaltete er die Darstellung des letzten Satzes, in der er die Themen in vortrefflicher Klarheit auseinander hielt. —  Als Solistin des Concerts trat Frau Teresa Carreno auf. [... Chopin ...]. Auffallend war die Stimmung des Bechstein'schen Flügels gegen die Stimmung des Orchesters. Das Letztere stand immer eine Schwebung zu hoch. Außerdem schien es, als ob diese Differenz sich im Verlaufe des Klaviervortrages noch steigerte und der Flügel in der Stimmung mehr und mehr nachließ. Das Chemnitzer Orchester steht zwar in höherer Stimmung, als man dies hier gewöhnt ist, den Abstand hätte man indeß in der Probe bemerken müssen.
                                                           Herrmann Starcke." (°)
 
und durch Otto Schmid in den Neuesten Nachrichten Nr. 352 auf S. 2:
"          Kunst und Wissenschaft.
      *  Der zweite J. L. Nicodé=Orchester=Abend brachte als Hauptwerk Anton Bruckners 8. Symphonie, C-moll, Sr. Majestät dem Kaiser Franz Josef l. gewidmet, zur für Deutschland ersten Aufführung. Die höchst gespannten Erwartungen wurden in Etwas enttäuscht. Anlage und Inhalt halten sich nicht die Waage. Diese ist nicht dergestalt, daß die besonders im Adagio übertriebene Ausdehnung durch jenen bedingt wäre. Es wäre zweckdienlicher gewesen, wenn sein Autor eine knappere Fassung im Auge behalten hätte und sich nicht zu langen Abirrungen in nicht symphonisch wirkende Stimmungsgebiete hätte verleiten lassen. Dieses Verlassen des eigentlich symphonischen Bodens ist aber doppelt bedenklich, denn es führt nicht nur zu gefährlicher Breite, sondern läuft auch dem strengen Aufbau der Symphonie zuwider. Unsere Einwendungen nun gegen Bruckners Schreibweise treffen der Natur der Sache nach am entschiedensten die Ecksätze, denen eben um des beregten [sic] Mangels willen der einheitlich große Zug, das Hinreißende, abgeht. Das Letztere aber auch noch aus dem Grunde, weil auch die thematische Erfindung, so Schönes und Charakteristisches sie auch in den Details bringt, gestaltender Phantasie entbehrt. Die Themen prägen sich nicht kraftvoll und nachdrücklich von selber dem Hörer ein, sondern müssen von ihm beinahe erst herausgesucht werden. Es wohnt ihnen also nicht die treibende Kraft echter heißblütiger Leidenschaft oder sonstig tief angeregten Empfindens inne, mit einem Worte die Genialität fehlt. Ungleich wirkungsvoller ist die Symphonie in den beiden Mittelsätzen. Wie Bruckner das Scherzo auf dem simpeln Hauptthema trutzig aufbaut, ist bewundernswerth, nicht minder erfreulich und erwärmend die Cantabilität und das oft kirchlich weihevolle Empfinden des Trio und leider nur zu lang gerathenen Adagio. Gesunde, der Musik so dienliche Sinnlichkeit spricht sich auch in der meisterlichen Orchestration aus, die oft hervorragend schöne, von eingehender Kenntniß der Klangwirkungen zeugende Wirkungen erzielt. Also Alles in Allem ein Werk, das trotz unserer Einwendungen den Meister ehrt und für dessen Vorführung das musikalische Dresden Henn J. L. Nicodé zu ehrlichem Danke verpflichtet ist. Und wie hat dieser und seine treffliche Capelle (Chemnitzer Stadtorchester) es vorgeführt! Es kann nur Worte rückhaltloser Anerkennung für diese von vollster Hingabe und vollstem Verständniß zeugende Aufführung geben. – Der zweite Theil des Programms brachte Chopins E-moll-Concert, mit bekannter Meisterschaft von Frau Carreno vorgetragen, ihrer Individualität entsprechend mit vollem Gelingen in den Ecksätzen, mit etwas minderem in der Romanze, deren träumerische Schwärmerei ihr weniger liegt, und als Schlußnummer Wagners "Holländer=Ouverture", deren Gesammtwirkung aber eine minder detaillirend verfahrende Ausarbeitung vortheilhafter ist.
                    Otto Schmid." (°°).


Zitierhinweis:

Franz Scheder, Anton Bruckner Chronologie Datenbank, Eintrag Nr.: 189512205, URL: www.bruckner-online.at/ABCD-189512205
letzte Änderung: Dez 30, 2023, 12:12