zurück 19.12.1895, Donnerstag ID: 189512195

Besprechung der 5. Symphonie im Pester Lloyd Nr. 303 auf S. 7, signiert "A. B." [= Beer? vgl. 15.12.1896]:
     Theater, Kunst und Literatur.
          Philharmonisches Konzert.

     Ein neuer Gastdirigent am Pulte, zwei hier noch nicht gehörte Orchesterwerke und - das Letzte das Beste - der Gesang einer Lilli Lehmann: man muß zugeben, daß das Programm des heutigen philharmonischen Konzerts bunt genug verfaßt war, um nach jeder Richtung hin Anregung zu bieten. Ob auch volle künstlerische Befriedigung? Das ist eine andere Frage. Nach langer Zeit haben uns die Philharmoniker wieder mit einer Symphonie von Anton Bruckner, der fünften, bekannt gemacht. [... kompletter Text bei www.anno.onb.ac.at  ... Bruckners Werke für den Großteil des Publikums zu anspruchsvoll ... sprunghafte Phantasie, überhitztes Pathos ... man vermisst zusammenfassende Kraft, das schöne Ebenmaß ... erster Satz ohne lebendigen symphonischen Fluß ... Adagio "ohne viel Empfindung" ... Lob für Scherzo und Trio ... im Finale ist Bruckner] auffallend ermüdet. Ungeheure Strecken werden mit trockenem motivischen Fortspinnen ausgefüllt, erst zum Schluß rüttelt uns ein Choral auf mit seiner apotheosenhaften Steigerung und dem pompösen Aufgebot des ganzen, noch durch eine zweite Bläsergruppe verstärkten Orchesters. Bruckner, von Haus aus Organist, bringt auch in seinen Symphonien das religiöse und rein kirchliche Moment mit Vorliebe zum Ausdruck. Die Aufführung des Werkes dauerte nahezu eine und eine halbe Stunde, kein Wunder, daß diese monströse Länge das Publikum außerordentlich ermüdete. Das Scherzo fand verdienten Beifall, die anderen Sätze wurden kühl aufgenommen. –
     [... über das Werk Herzfelds und Lilli Lehmanns Auftritt ...] – Der Professor am Wiener Konservatorium, Herr Ferdinand Löwe, ein Schüler und begeisterter Apostel Bruckner's, dirigirte sämmtliche Programmnummern durchaus tüchtig, mit Schwung und Temperament. Er hat die Partituren im Kopfe und scheint Bülow's Wort zu befolgen: Man mus auswendig dirigiren können, um gut zu dirigiren.          A. B." (*).

Ausführliche Kritik zur 8. Symphonie im Dresdner Journal Nr. 295 (Abendausgabe) auf S. 2255, signiert "H. P.":
       "Konzert. Der von Hrn. J. L. Nicodé veranstaltete zweite Orchesterabend hatte gestern im Gewerbehause kein sehr zahlreiches Publikum versammelt, doch war die Teilnahme in Anbetracht der Weihnachtszeit und in Hinsicht auf das nicht jedermann zusagende Programm immer noch befriedigend. Den größeren Teil des Abends, reichlich fünfviertel Stunden, beanspruchte die achte Symphonie (C-moll) von Anton Bruckner. Nach einmaligem Hören ist dem ungewöhnlich ausgedehnten Werke schwer beizukommen, man muß also sein Urteil unter Vorbehalt abgeben. Was auch in dieser Symphonie des Wiener Komponisten am schärfsten in die Augen springt, ist die Entwickelung des Vortrags nach einer ganz eigenen Logik, welche den erprobten musikalischen Denkgesetzen widerspricht und die für uns persönlich wenig Überzeugendes hat. Bruckner ist ein Musiker von üppiger Phantasie, aber er besitzt eine geringe Kraft, den starken Zustrom der Einfälle in fest und schön gegliederten Formen zu bändigen. Darunter leiden in seiner neuen Schöpfung vornehmlich die beiden Ecksätze und von diesen am meisten das Finale, durch dessen Episodenwirrnis man sich wohl nur mit Hilfe der Partitur hindurchfinden kann. Hier fehlt die zwingende Klarheit des Gedankenganges, die melodisch nicht packend genug ausgedrückten Hauptideen verschwinden zum Teil unter dem immerwährenden Zufluß neuer Nebengedanken, die Durchführung der Motive ist sprunghaft, ohne Ziel und Vollendung. Hier ergiebt sich, was bei einem großen Teil moderner symphonischer Musik hervortritt: welch' ein mühsames Geschäft es ist, derlei Produktionen anzuhören, ihren Inhalt zu verstehen zu suchen. Man braucht nicht gleich bis auf die Klassiker zurückgreifen, und wird doch leicht viele Tonwerke anführen können, die uns mit raschem Zuge erfassen und fortreißen; wir müssen ihnen folgen, wir sind in ihrem Bann. Anders die Hervorbringungen unserer Fortschrittsmusiker, die uns häufig auf ein Vorstudium von allerhand Analysen und poetischen Deutungen verweisen, die uns in angespannter Besorgnis erhalten, den Faden zu verlieren, die das erstmalige Hören vorwiegend zu einer Verstandsarbeit machen; wir möchten ihnen folgen, aber nur mit Anstrengung halten wir uns auf ihren vielfach verschlungenen Pfaden, wir werden von ihnen nachgezogen, nicht fortgetragen im klaren Schwunge der Gedanken und Stimmungen.  .  .  .  Diese letztere Wirkung geht den Außensätzen der Brucknerschen Symphonie ab, dieselben hinterlassen keinen vollen Gesamteindruck, sie ketten unser Interesse lediglich an Einzelheiten, nicht selten allerdings an solche von genialer Prägung. Dazu rechnen wir unter anderem im ersten Satz den Moment, wo Geigen und Holzbläser einerseits und Bässe und Blechbläser anderseits zwei Themen in der Vergrößerung über einander stellen, und am Schluß des Finales die kontrapunktische Glanzstelle, in welcher die Hauptthemen des ersten Satzes und des Adagios mit dem vergrößerten Thema des Scherzos kombiniert sind.
     Während sich der erste Satz bei näherer Bekanntschaft, wenn man die Motive schon fester im Ohre hat, voraussichtlich mehr lichten würde, erscheint uns das beim Finale nicht als sehr wahrscheinlich. Diefes Stück, in welchem sich die den Siegesgesang durchbrechenden Choralteile sehr schön ausnehmen, erfordert kräftige Striche, wenn der Symphonie ein günstiger Abschluß gesichert werden soll. So wie es sich jetzt präsentiert, giebt es dem von einer Stunde Musik bereits ermüdeten Hörer vollends den Rest. Striche thäten auch dem Adagio not, das durch solche zwar nicht zu größerer Klarheit erhoben werden könnte — denn dann [sic] gebricht es ihm nicht –, das aber bei geringerer Ausdehnung uns unmittelbarer berühren würde. Dieser langsame Satz ist bis zum Eintritt des dritten von Violinen gebrachten Themas ein melodisch prachtvoll deklamiertes, durch tiefe Stimmung ergreifendes Tonstück von wunderbar leuchtendem Kolorit und man versöhnt sich gern mit den nach Wagnerschem Rezept gemachten Variationen (deren Reihe, nebenbei bemerkt, nach diesem Muster mühelos in infinitum fortgesetzt werden kann); was jedoch in der weiteren Durchführung des Satzes geboten wird, schwächt diesen nur ab und treibt ihn sehr nahe an den Punkt heran, wo Beredsamkeit und Geschwätzigkeit ineinanderlaufen. Neben dem Adagio dünkt uns das Scherzo der gelungenste Abschnitt der Symphonie zu sein. Zwar ebenfalls sehr lang gedehnt, trägt er indessen mit seinem rythmischen [sic] und geistigen Leben und mit dem zarten Gesang des Trios an seinem Teil das ganze Werk aufs kräftigste.
     Als Erfinder zeigt Bruckner in anderen Schöpfungen eine entschiedene Abhängigkeit von Schubert und Wagner, in dieser achten Symphonie tritt erstere fast gar nicht, letztere nicht ausschlaggebend hervor. Technisch bekundet er eine äußerst gediegene Behandlung des Satzes, seine Kontrapunktik ist zweifellos an kirchlicher Musik geschult, und eine meisterhafte Führung des Orchesters. In der Harmonik liebt er mancherlei Absonderlichkeiten, wie man sie sonst nur bei unserer stürmenden Jugend zu finden pflegt, und selbstverständlich eine schrankenlose Freiheit in Modulieren; daß der erste Satz in C-moll mit einem Tremolo auf F und der letzte in gleicher Tonart mit Viertelschlägen auf Fis beginnt, sind im Verhältnis noch Harmlosigkeiten. Aber bei aller Kühnheit ist seine Satzweise interessant, geistvoll und dem induviduellen [sic] gedanklichen Ausdruck förderlich, seine instrumentalen Kombinationen lassen die Sprache des Orchesters nie matt und kanglos [sic] werden, treiben in derselben häufig die blühendsten Farben, die glänzendsten Effekte hervor und führen dem Musiker wahre Leckerbissen zu. Erwähnt sei nur die eigenartige Heranziehung der Harfe im Scherzo=Trio und in der letzten Durchführung des Adagio. Allerdings hat der Komponist auch alle vorhandenen Mittel herangezogen, dreifach besetzte Holzbläser, Tenor= und Baßtuba, drei Trompeten, drei Posaunen, Kontrabaßtuba u. s. w.
      Die Symphonie stellt an den Dirigenten und an das Orchester ungewöhnliche Anforderungen, und es ist geradezu bewundernswert, mit welcher Sicherheit die Chemnitzer Städtische Kapelle dieselben erfüllt hat. Abgesehen von kleinen Unfällen, denen das beste Orchester nicht entgeht, gelang alles vortrefflich, mit höchster Präzision und Beweglichkcit des Vortrags, geschmeidig in den raschesten Abstufungen des Ausdrucks, namentlich auch in der Dynamik, mit welcher Elementarkraft Bruckner und die modernen Komponisten überhaupt stark rechnen. Hr Nicodé leitete die Aufführung in der ihm eigenen energischen Weise, mit anfeuerndem begeistigtem Schwunge. Er bringt solchen Werken die vollste Liebe entgegen, er findet als ganz moderner Musiker den stärksten Zugang zu ihnen, er ist ein vornehmlich berufener Interpret derselben.
     Auch an das Publikum stellt die Symphonie, wie schon gesagt, die größten Ansprüche und auch auf dieser Seite hat es nicht an eifrigstem Entgegenkommen gefehlt. Wie es die bedeutenden Intentionen des phantasievollen Schöpfers verdienen, ist sein Werk gestern von unserem Publikum mit lebhaftem Beifall aufgenommen worden, der besonders nach den Mittelsätzen die wirkliche Stimmung der Hörer auszudrücken schien.
     Solistin des Abends war Frau Teresa Carreno. Sie spielte Chopins E-moII-Konzert und als Zugabe die As-dur-Polonaise. [...] Und Frau Careño [sic] ist unserem Publikum ja seit langem eine bekannte und verehrenswerte Erscheinung.       H. P." (**).

Kritik zur 7. Symphonie in der Frankfurter Zeitung Nr. 351, signiert „h.“:
„    Kleines Feuilleton.
                       Frankfurt a. M., 18. December.
    [Drittes Opernhaus=Konzert.] Der heutige Abend im Opernhause darf den Anspruch erheben den bedeutungsvollsten Ereignissen der hiesigen Konzertsaison beigezählt zu werden. Nur fünf Nummern, dazu nach Form und Inhalt sehr ungleiche zählte das Programm, aber jede von einem eigenarthigen künstlerischen Werthe und eine Summe von Arbeit und Vorstudien erheischend. Daß Herr Dr. Rottenberg das Wagniß auf sich nahm, mit einer Bruckner’schen Symphonie das hiesige Publikum bekannt zu machen, verdient um so mehr Anerkennung, als ein solches Unternehmen erfahrungsgemäß nur höchst selten sich durch einen spontanen Erfolg selbst belohnt. Auch hier war das Echo, welches das umfangreiche Werk (Nr. 7, E-dur) des greisen Wiener Tondichters in den Herzen der Zuhörer fand, weder ein sehr lautes  noch allgemeines, und doch darf man angesichts der unerhörten Ansprüche, welche die seltsam tiefgründige und gestaltenreiche Schöpfung mit ihren gigantesken Formen, ihren langathmigen, oft sprunghaft mit einander verknüpften Perioden und ihrer bald machtvoll eindringlichen, bald bizarr anmuthenden Farbengebung an das Verständniß des Hörers stellt, mit der ihr heute hier zu Theil gewordenen Aufnahme im Publikum noch zufrieden sein. Unter den vier Sätzen dieser Symphonie verdient der zweite, ein Adagio von fast transcendentaler Schönheit den herrlichsten Eingebungen der Tonmuse beigezählt zu werden, und schon um dieses Satzes willen lohnt es sich, das ganze fast einstündige Werk aufzuführen. Unverständlich ist es uns, wie man bei Anton Bruckner von einem Uebertragen Wagner'scher Kunstprinzipien auf die Symphonie reden kann. Die Anwendung von vier Tuben und von kühnen Harmonieverbindungen sind doch schließlich Aeußerlichkeiten, die mit dem eigentlichen Wesen Wagner'scher Kunst nichts zu schaffen haben. Um dieses zu erkennen, muß man schon etwas tiefer graben, und ebenso soll man andererseits auch Bruckner geben, was Bruckners ist, der in seiner Art durchaus ein Original ist, ebensogut wie Brahms, Schumann oder Mendelssohn. Eine andere interessante Neuheit wurde in dem Bruchstück aus Richard Strauß’ Musikdrama „Guntram“ geboten, [… Sänger: Herr von Bandrowski … Griegs „Peer Gynt“, erste Suite … Beethovens Es-Dur-Klavierkonzert und ein Werk Liszts mit Frédéric Lamond …].       h.“ (***).

Aus dieser Kritik (von Engelbert Humperdinck) zitieren das (heutige) Illustrierte Wiener Extrablatt Nr. 348 auf S. 5:
„           Ein Sieg Meister Bruckner’s.
     Frankfurt am Main.
19. December. (Privat=Depesche.) Im gestrigen Opernhaus=Concert errang Anton Bruckner’s Symphonie Nr. 7 E-dur einen bedeutenden Erfolg. Engelbert Humperdinck, der in der „Frankfurter Zeitung“ darüber berichtet, bemerkt, daß besonders der zweite Satz, ein Adagio von fast transscendentaler Schönheit, den herrlichsten Eingebungen der Tonmuse beigezählt zu werden verdiene.“ (°)

und die Oakland Tribune vom 1.8.1896:
"Humperdinck, the most successful German opera composer since Wagner, declared in a recent article in the Frankfurter Zeitung that the adagio of his seventh symphony was one of the most delightful movements in the whole range of symphonic literature." (°a).

Aufführung eines "Tantum ergo" [in G-Dur - sic] [prov. WAB 48] unter Schulleiter E. Neubauer bei der kirchlichen Installationsfeier von Pfarrer Johann Hagleitner in Reichenau. Anwesend u. a.: Laurenz Schneeberger, Dechant Falkner (Weyer), Pfarrer Muhr (Kirchberg) (°°).

Anlässlich der Aufführung der 8. Symphonie am 18.12.1895 in Dresden wird in den Neuesten Nachrichten Nr. 351 auf S. 1 auch Theodor Helms Bruckner-Artikel vom 15.12.1895 erwähnt:
"     *  Die Anton Bruckner=Nummer der "Oesterreichischen Musik= und Theaterzeitung" (Wien), die soeben zur Ausgabe gelangt, sei allen Kunstfreunden unserer Stadt um so wärmer der Beachtung empfohlen, als wir am Vorabend der Aufführung eines seiner bedeutendsten symphonischen Werke, wo nicht seines bedeutendsten, stehen, der im Jean Louis Nicodé=Concert am 18. d. M. zur Aufführung gelangenden Achten (in C-moll). Die Nummer, eine wahre Festnummer, mit dem Charakterkopf des greisen Meisters geziert, bringt an leitender Stelle eine vortreffliche biographische Skizze Bruckners, die keinen Andern als den durch seine hochgewerthete Analyse der Streichquartette Beethovens (Leipzig, E. W. Fritzsch) rühmlichst bekannten Musikschriftsteller Dr. Theodor Helm zum Verfasser hat. Es folgt eine eingehende, auf strengster Sachkenntniß basirte Abhandlung über Bruckners F-moll-Messe (Nr. 3) vom Chefredacteur und Herausgeber des Blattes, B. Lvovsky, und dieser eine sorgfältige, durch Notenbeispiele illustrirte Analyse der »Achten", eben der bei uns zur Aufführung gelangenden Symphonie, von Dr. Theodor Helm. Aufsätze: "Aus dem Leben Anton Bruckners", »Bruckners Dirigiren" [sic], "Eine Erinnerung an Bruckner" bilden den Schluß der dem Meister gewidmeten Artikelserie, nicht aber der Angabe des auch sonst noch reichhaltigen und hochgediegenen Fachblattes." (°°°).


Zitierhinweis:

Franz Scheder, Anton Bruckner Chronologie Datenbank, Eintrag Nr.: 189512195, URL: www.bruckner-online.at/ABCD-189512195
letzte Änderung: Feb 19, 2024, 9:09