zurück 8.1.1896, Mittwoch ID: 189601085

Kritik Max Kalbecks über die 4. Symphonie [am 5.1.1896] im Neuen Wiener Tagblatt Nr. 7 auf S. 1 - 3:
"                     Concerte.
     Um sich ein paar Wochen der Ruhe zu vergönnen, haben die Philharmoniker zwei Concerte aufeinandergesetzt, so daß das alte Musikjahr, anstatt klanglos im bodenlosen Abgrunde der Zeit zu versinken, dem neuen die Hand zum tönenden Reigen entgegenstrecken konnte. [... Schüttes Klavierkonzert, Tschaikowskys Pathetique (Vorbehalte) ...].
     Mit weit größerem Antheil, wenn auch mit viel geringerer Befriedigung haben wir Anton Bruckner's Es-dur-Symphonie (Nr. 4) wiedergehört. Fünfzehn Jahre besannen sich die Philharmoniker, ehe sie das in einem Gelegenheitsconcerte von ihnen zuerst gespielte Werk in ihr Programm aufnahmen. Inzwischen ist – ob von dem Componisten selbst oder einem seiner Verehrer, wissen wir nicht – der wahre Charakter der Symphonie entdeckt und festgestellt worden: sie heißt jetzt die "romantische". Was damit besonders gesagt sein soll, wird uns immer ein Räthsel bleiben. Wenn etwa die literarhistorisch erhobenen Merkmale der romantischen Schule, deren Phantastik, Willkür, Ueberschwänglichkeit und Ichsucht an Bruckner und seiner Symphonie nachgewiesen werden sollen, so haben wir nichts dawider einzuwenden. Nur müßten dann sämmtliche Bruckner'sche Symphonien so genannt werden. Romantisch also wäre die verzückte Schwelgerei in unklaren Gefühlen, die mit fixen Ideen abwechselnde rasende Gedankenflucht, das unmotivirte Abreißen betimmter Vorstellungsreihen und Anknüpfen fremder heterogener Elemente, das mechanische Wiederholen inhaltloser Phrasen; romantisch wären diese ewigen Verlegenheits=Tremolos, Rettungs=Tonleitern, Angst=Pausen, Noth=Sequenzen und Verzweiflungs=Fanfaren, das große Dschingdarassa, Schnedderenddeng und Bumbum? Meinetwegen. Classisch ist dergleichen ganz und gar nicht, das steht fest, und so mag es wohl romantisch sein. Neben den abstrusen Sonderbarkeiten der Bruckner'schen Musik aber, die uns zu keinem ruhigen Genusse kommen lassen, finden wir in ihr überall rührende, erhabene und tiefsinnige Einfälle, die des größten Meisters nicht unwürdig wären; sie sind das nur zu schnell verfliegende Wetterleuchten am trüben Himmel seines Genies und üben auf uns wie auf alle Welt ihre magische Anziehungskraft aus. Wie hoffnungsvoll setzt jeder der vier Sätze ein und wie viele eigenthümlich schöne Episoden sind in ihnen enthalten! Leider fällt über einer anmuthigen Scene immer gleich wieder der Vorhang, um dann von neuem aufgezogen zu werden – ein ermüdendes Spiel! Lauter Wege und kein Ziel, lauter Vorbereitungen und keine Handlung.
     Zu der "reinen Thorheit" der Bruckner'schen Symphonie, die doch ihre gute, herzgewinnende Seite hat, tritt die raffinirte Narrheit einer symphonischen Dichtung von Richard Strauß in scharfen, unangenehmen Contrast. "Till Eulenspiegel's lustige Streiche, nach alter Schelmenweise in Rondeauform", [... ausführlich, aber nicht positiv über das Werk ...]
     Bei der "gleichgiltigen" Clarinette fällt uns ein, daß Haydn, Mozart und Mendelssohn zwischen Tschaikowski, Bruckner und Strauß zur Erholung der nervös erregten Zuhörer aufgeführt wurden und eine ziemlich klägliche Figur dabei machten. Herr Hans Richter, der die Novitäten zu glorreichen Orchestersiegen führte und sammt seinen Getreuen nach Verdienst beklatscht und bejubelt wurde, hat für jene alten Herren, die ohnehin bei den Philharmonikern im Ausgedinge stehen, nicht viel übrig. [... über andere Konzerte ...]
     [... lobend über den Liederabend von Felix Kraus ...]. Aus allen diesen Vortragen sprach ein reich entwickeltes poetisch=musikalisches Denken und Empfinden.
                                 Max Kalbeck." (*).
 
Besprechung desselben Konzerts durch Hagen in der Ostdeutschen Rundschau Nr. 7 auf S. 6:
"     Fünftes philharmonisches Konzert. Hans Richter ist doch ein arger Schalk! Das sähe man ihm gar nicht an, daß er die Gegensätze so aneinanderhetzen will. [... Mozart, übermodernes Werk (Richard Strauss), lindernder Balsam (Mendelssohn) ...], und zum Schlusse gab es sogar ein wirkliches großes Meisterwerk, eine echte Begeisterung. Freilich hätte diese noch mehr gezündet und die Lahmen mit fortgerissen, wenn nicht durch die vorhergegangenen Zumuthungen die schwachen Kräfte des Mittagspublikums zu sehr aufgezehrt worden wären. Darin lag das Bedenkliche von Richters Schalkhaftigkeit. [... über "Till Eulenspiegel", kurz zur Hebriden-Ouvertüre ("etwas weichliche Romantik") ...]; sie sollte hinüberleiten zu Bruckner's vierter Symphonie in Es-dur, welche ja auch den Namen die "romantische" führt und sich zu der Hebriden=Ouverture etwa so verhält, wie ein reich belebtes Epos zu einer Romanze. Sie ist ein Bild des deutschen Mittelalters in großen Zügen, ein Zusammenfassen der romantischen Empfindungen. Der erste Satz scheint uns in großartiger Weise die Szenerie zu malen: düstere Felsschluchten thun sich auf, wilde Wasserfälle rauschen, eine heroische Landschaft zeigt sich uns, dann die liebliche Kehrseite: ein Waldidyll mit Vogelgezwitscher (Motiv in Des-dur); es wird von den Fanfaren der durchziehenden Recken unterbrochen. So setzt es sich im glänzenden Wechselspiel fort, und vor unseren Blicken tauchen ferne, längstentschwundene, sagenreiche Zeiten empor! – Der zweite Satz (Andante, C-moll) führt uns zur mittelalterlichen Askese – die Lebenspilgerfahrt des Büßers zieht in leisen, ergreifenden Tönen an uns vorbei, bis ihm himmlische Erlösung – prachtvoll durch das plötzliche Erklingen der Posaunen, Baßtuben und Trompeten gekennzeichnet – leuchtet und er selig in den [sic] Herren entschläft. Im erquickenden Gegensatze dazu braust im dritten Satz (Scherzo, B-dur) die Jagd heran, als Mittelsatz schiebt sich die behagliche Waldrast ein – der Jagdzug verliert sich in der Ferne und es scheint, als würde indessen das Gesinde mit Spiel und Tanz sich die Zeit vertreiben (Trio, Ges-dur ¾), bis die Jagdgesellschaft mit schmetternden Hörnern wieder zurückkehrt. Das Ganze das Bild der mittelalterlichen Lustbarkeit, die edle Waidmannslust hier, der Tanz der Dörperschaft dort. Der letzte Satz steigert sich zu einem großartigen Epilog, welcher uns Empfinden und Denken der fernen Zeiten erschließt: Mystik und Kampfesfreude, spukhafter Aberglaube und heller Festesjubel, Minnelust und Herzeleid. Das Werk mit seinem eigenartigen poetischer Zauber ist wie geschaffen, eines der volksthümlichsten des Meisters zu werden, und es ist auch von seinen Symphonien verhältnismäßig oft in Wien zur Aufführung gelangt, die Philharmoniker sind merkwürdiger Weise verspätet nachgehinkt, denn bei ihnen war die sonntägige die erste! Hoffentlich lassen sie bald eine zweite folgen, denn was für Tschaikowsky recht ist, das ist wohl für Bruckner, den einheimischen Meister, billig. Der immer wachsenden Gemeinde seiner Verehrer wird es wohl die größte und herzlichste Freude bereitet haben, daß der greise Tondichter selbst wieder der Aufführung beiwohnen und für den begeisterten Beifall danken konnte.           Hagen." (**),
 
im Illustrierten Wiener Extrablatt Nr. 7 auf S. 5, signiert »k. st.« [= Königstein]:
„        V. Philharmonisches Concert.
    Die Philharmoniker eröffneten ihr fünftes Abonnement=Concert am Sonntag mit Mozart’s thaufrischer Symphonie in D-dur, [… über dieses Werk und ausführlich über „Till Eulenspiegel“ …]. Ueber die beiden folgenden Nummern: die Ouverture zu den „Hebriden“ von Mendelssohn und die vierte Symphonie von Bruckner, erscheinen uns Bemerkungen überflüssig. Beide Stücke sind von den Philharmonikern unter Hans Richter’s Leitung wiederholt zum Vortrage gebracht worden. 
                                         k. st.“ (***)
 
und im Neuigkeits-Weltblatt Nr. 5 auf S. 12:
"     V. Phylharmonisches Konzert. Prinz Karneval schwingt seine Schellenkappe und dies veranlaßt unsere Philharmoniker, in ihren ordentlichen Abonnementskonzerten eine längere Unterbrechung eintreten zu lassen. Sie haben uns jedoch am Sonntag den kurzen Abschied recht schwer gemacht. Ein künstlerisch höchst werthvolles Programm zeigte unsere Meisterspieler auf der Höhe ihres Glanzes. Dem Bedeutendsten das erste Wort! Die Erstaufführung der Bruckner'schen vierten Symphonie in Es-dur, der sogenannten "Romantischen", kann nur für die Philharmoniker als Première gelten, die endlich das grandiose Werk, das wir in diesen Blättern wiederholt besprochen haben, in ihr Repertoire aufgenommen und dem Meister damit einen verdienten Tribut gezollt haben. Die herrliche Schöpfung, insbesondere das unvergleichlich schöne Andante und der dritte Satz, wurde vom Publikum mit Enthusiasmus empfangen und immer wieder mußte sich der greise Bruckner von seinem Logenplatze aus dankend für die rauschenden Ovationen, die ihm zu Theil wurde, verneigen. Die eigentliche Novität: Richard Strauß' musikalische Humoreske "Till Eulenspiegels lustige Streiche" erwies sich als ein höchst geistreiches Mosaik origineller Orchesterscherze, [...]. Der Applaus entsprach den künstlerischen Leistungen.              Alpha." (°).
 
"Die Presse" Nr. 7 weist auf S. 11 auf eine Neuerscheinung hin:
"    – Wiener Almanach 1896. Heinrich Bohrmann und J. Prager [sic! recte J. Jaeger] haben es unternommen, in regelmäßiger Folge ein Jahrbuch für Literatur, Kunst und öffentliches Leben herauszugeben, das Wien nicht blos zum Erscheinungsort hat, sondern vorwiegend Wiener Autoren berücksichtigt. Es schließt dies nicht aus, daß auch Werke anderer deutscher und österreichischer Schriftsteller Aufnahme finden. Sehr fein ausgeführte Heliogravüren zieren das Werk und Musikcompositionen von Brahms, Bruckner, Goldmark und Taund bilden eine sehr willkommene Beigabe." (°°).


Zitierhinweis:

Franz Scheder, Anton Bruckner Chronologie Datenbank, Eintrag Nr.: 189601085, URL: www.bruckner-online.at/ABCD-189601085
letzte Änderung: Nov 29, 2023, 15:15