zurück 14.4.1896, Dienstag ID: 189604145

Kritik von Prochaska über die 1. Symphonie [am 11.4.1896] in der Grazer Morgenpost Nr. 85 auf S. 1f, signiert "V. P.":
"             Feuilleton.
Viertes Orchester=Concert des steiermärkischen Musikvereins. 

     Am vergangenen Samstag fand, wie bereits kurz berichtet, im „Stephaniensaale“ das letzte diesjährige Concert des steiermärkischen Musikvereines statt, welches recht gut besucht war.     [… über Hugo Wolf (aus „Der Corregidor“) und Beethoven (Bagatellen) …].
     Den Schluss des Concertes bildete die erste Symphonie (C-moll) für großes Orchester von Anton Bruckner. Wir hatten in Graz bereits Gelegenheit, noch die dritte Symphonie (D-moll), die vierte (romantische in Es-dur), vielleicht die formvollendetste und blühendste von allen, welche zum erstenmale im Jahre 1888 von den Philharmonikern in Wien aufgeführt wurde, dann die contrapunktisch kunstvollste und darum auch schwer verständliche fünfte (B-dur) und die siebente (E-dur) kennen zu lernen.
    Die erste Symphonie ist, wie alle übrigen Symphonien Bruckners, im größten Stile angelegt und wir finden darin eine Menge geradezu titanischer musikalischer Gedanken, deren Erfindung und Durchführung, sowie die Contrapunktik und die gewaltigen Steigerungen zum höchsten Staunen herausfordern; man ist verblüfft, überwältigt von den erhabenen Schönheiten. Allerdings vermisst man bei diesem symphonischen Erstlingswerke oft die Einheitlichkeit und jenes künstlerische Gleichgewicht, welche in seinen späteren Werken in höherem Grade vorhanden sind und die die Verständlichkeit fördern.
     Ich möchte an einige Stellen der beiden Ecksätze erinnern, deren Zusammenhang mit dem Ganzen nicht leicht ergründlich ist und die den Sätzen, namentlich dem letzte, auch eine übermäßige Ausdehnung geben. Trotzdem aber stehen wir, wie schon erwähnt, vor einer Menge von Einzelheiten, die nur von einem gottbegnadeten Künstler herrühren können; überall zeigt sich der geistvolle Musiker, der, obwohl er viel zu sagen hat, nie Gewöhnliches bringt. Alles ist voll Leben und Begeisterung und begeistert daher auch die Zuhörer. Jedenfalls aber verlangt ein so großes Werk ein genaueres Eingehen und Vertiefen, als es bei einem nur einmaligen Anhören möglich ist.
     Von den vier Sätzen – Allegro molto moderato, Adagio, Scherzo und Finale – sind die beiden Mittelsätze, das poetisch schöne Adagio und das in energischen Rhythmen pulsierende Scherzo, am leichtesten zugänglich.
     Die in Rede stehende Symphonie wurde zum erstenmale in Linz im Jahre 1868 aufgeführt, blieb aber ziemlich unverstanden, was den Meister sehr verstimmte. Bruckner ist vielfach angefeindet, geschmäht und verkannt worden und selbst heute finden sich sogar noch Fachleute, welche über ihn den Stab brechen. Nichtsdestoweniger kann die Bedeutung Bruckners als Symphoniker nicht mehr hinweggeleugnet werden und nach einer vieljährigen, traurigen Periode der Verkennung steht Bruckner, zwar noch nicht allgemein verstanden, aber doch in den weitesten Kreisen geliebt und verehrt, auf der Höhe seines künstlerischen Schaffens als leuchtender Stern am Himmel deutscher Tonkunst.
     Um die mit unseren Mitteln gerundete Wiedergabe dieses Riesenwerkes und um das eingehende, mühevolle Studium erwarb sich Herr Director Degner ein schönes Verdienst, für welches er durch reichen Beifall und mehrfache Hervorrufe belohnt wurde.
     Sehr wacker hielten sich die Bläser, welche ihre schwierige und anstrengende Aufgabe meist vollkommen entsprechend lösten. Im Scherzo missglückte gleich anfangs eine Stelle im Horn. Den gewaltigen Klangmassen der Bläser gegenüber erwies sich das Streichorchester, namentlich die Besetzung der ersten Geige, vielfach als zu schwach.                 V. P.“ (*).

Auch das Grazer Volksblatt Nr. 85 bringt auf S. 6 eine Besprechung, signiert "-sdl-" [vermutlich Carl Seydler]:
" Orchester=Concert des Steiermärkischen Musikvereines.
     Am 12. [sic] d. M. wurde im Stephaniensaale das vierte Orchester-Concert des Steiermärkischen Musikvereines gegeben.
     Gespielt wurden erstens [... Hugo Wolf, Beethoven/Degner ...] und drittens Bruckners erste Symphonie (C-moll).
     Fürwahr ein vornehmnes Programm; Wolf und Bruckner fesselnd durch die hinreißende Kraft ihrer zügellosen, phantastischen Tonmassen [...].
     Wolf trafen wir als Dramatiker endlich in seinem richtigen Elemente; ein Talent mit soviel überquellender Phantasie, mit soviel Schärfe der Ausdruckskraft, vermag sich im engen Rahmen des Lieder nicht wohl zu fühlen; das drängt überall hinaus, stoßt an, schneidet und sticht. [... Corregidor günstiger als die Lieder beurteilt ... Zitate aus dem Programmheft ...].
     Von Bruckner kennen wir nun außer der 3., 4., 5. und 7. Symphonie auch die 1., also es fehlen uns nur noch die 2., 6. und 8. Wir begrüßen jedes Werk des großen heimischen Meisters mit Freuden, wir bringen jedem desselben eine gewisse Andacht entgegen; denn fürwahr ein großer Reichthum von Gedanken, das tiefe, geheimnisvolle Walten eines auf einsamer Höhe thronenden Geistes weht uns aus jeder Schöpfung Bruckners entgegen. Der greise Meister ist ein musikalischer Riese; ein Meer von Klängen, einen Orkan von stürmender und drängender Tonbewegung weiß er aus jeder seiner Partituren zu entfesseln. Und gerade in seiner 1. Symphonie in C-moll (componiert 1865 in Linz) scheint die ganze künftige Größe Bruckners vorbedingt zu sein; alle orchestralen Mittel, welcher er sich so wirksam und glänzend zu bedienen weiß, die ganze erstaunliche Kühnheit seines contrapunktischen Aufbaues, das alles finden wir hier schon vereint; aber es fehlt noch die charaktervolle Festigkeit des vollendeten Künstlers, es fehlt vor allem die Schönheit einer ebenmäßigen Ausgestaltung, die Klarheit einer mit sich selbst fertigen künstlerischen Überzeugung. Wir haben einen jungen Löwen vor uns, welcher die kraftstrotzenden Glieder reckt und die Mähne schüttelt; aber wir sehen vor lauter Mähne keine Glieder. Übrigens im ersten Satze und im Scherzo findet man sich noch leichter zurecht; hier strömt das Empfinden mit vollem Hauche, aber doch menschlich, warm und überzeugend; aber im  letzten Satze, da werden die vielen contrapunktlichen Räthsel zum wilden, gordischen Knoten, da klingt es uns um die Ohren wie Wahnsinn in Tönen, allerdings wie der heil. Wahnsinn eines Propheten.
     Degner hat uns sämmtliche Werke trefflich mit seinem Orchester interpretiert und fand verdiente Anerkennung durch reichlichen Applaus.              -sdl- " (**).

Robert Hirschfelds Feuilleton in der »Presse« Nr. 103, S. 1 - 3, geht auf S. 2 auch auf den Chor »Träumen und Wachen« [am 25.3.1896] ein:
»               Feuilleton.
        Aus dem Concertsaal.
              Eine Nachlese.
 
  Zum Schlusse der Saison sammelten unsere Männergesang=Vereine ihre Truppen. [... über Konzerte dreier Männergesangvereine, zuletzt über das des Schubertbundes ...] Ein Chor von Anton Bruckner, keiner von den bedeutenden, folgte, Grillparzer's gallige Verse "Träumen und Wachen", welche selbst die Thaten zu Schatten erniedrigen, geben auch eine allzu haltlose Grundlage. [... Signatur:] Dr. Robert Hirschfeld.« (***).


Zitierhinweis:

Franz Scheder, Anton Bruckner Chronologie Datenbank, Eintrag Nr.: 189604145, URL: www.bruckner-online.at/ABCD-189604145
letzte Änderung: Dez 01, 2023, 13:13