zurück 9.12.1865, Samstag ID: 186512095

In einem Artikel über den Domchor und eine neue Messe von Dorn in den Christlichen Kunstblättern Nr. 12, S. 50, wird auch Bruckners d-Moll-Messe erwähnt:
      »Domchor. Das Repertoire unseres Domchores ist ein den Besuchern dieses Gotteshauses sehr bekanntes, aber es ist kein unabänderliches. Vielmehr ist die Bereitwilligkeit, mit welcher neue Tonwerke zur Aufführung gebracht werden, aller Anerkennung werth. So wurde neulich eine Messe vom hiesigen Theaterkapellmeister Dorn einstudiert und producirt. Ein großes Werk, welches viel Schönes und noch mehr Künstliches in sich birgt. Ohne bedeutende Begabung in Verbindung mit fleißigem Studium kommt eine solche Tondichtung nicht zu Stande. Dorn hat sich auch R. Wagner und Liszt zu Vorbildern genommen, und man muß gestehen, daß er ihren Stil (oder Manier?) nachzuahmen versteht. In's Einzelne können wir, da wir die Partitur nicht sahen, uns nicht einlassen. Es dürften die durch Schönheit hervorragenden Partien den vergriffenen jedenfalls das Gleichgewicht halten. Das Alles sagen wir vom allgemein musikalischen Standpunkte. Dabei halten wir aber, uns speziell auf den kirchenmusikalischen Standpunkt stellend, unsere Ueberzeugung aufrecht, daß dieser jüngste Stil unter allen am wenigsten kirchlicher Stil sei und sein könne. Das ist unsere aufrichtigste und feste Ueberzeugung; und dennoch freuten wir uns über die Aufführung der Bruckner'schen und jetzt der Dorn'schen Messe. Warum? Einmal schon, weil bei solcher Gelegenheit bessere Kräfte zusammenzuwirken pflegen, dann aber hauptsächlich deßhalb, weil die genannten Tonwerke geistvoll komponirt sind und wirklich auf der Höhe der Zeit stehen. Um des Werthes willen, den sie in sich tragen, kann man die Fehler des Stiles leichter übertragen. Auf der anderen Seite ist nichts unerträglicher, als die langweilige Seichtigkeit gewisser Kompositeure, die ihr Unvermögen mit dem Anscheine von Kirchlichkeit zu bemänteln suchen, und die Schablonmäßigkeit anderer, die selbst ohne Erfindung und Originalität nur in der musikalischen Mache eine bedeutende Fertigkeit sich eigen gemacht haben.
     Die zweite Produktion am Domchor, deren wir erwähnen müssen, ist die der Cherubini=Messe zum Cäciliafeste [22.11.1865]. Man hätte für diesen Tag kaum besser wählen können. Die genannte Messe nimmt eine hohe Stufe unter den musikalischen Schöpfungen ein und wird von vielen geradezu für epochemachend gehalten.
     Die Aufführung war jedesmal sehr gelungen.« [keine Signatur; verantwortlicher Redakteur Dr. F. Waldeck].


Zitierhinweis:

Franz Scheder, Anton Bruckner Chronologie Datenbank, Eintrag Nr.: 186512095, URL: www.bruckner-online.at/ABCD-186512095
letzte Änderung: Feb 02, 2023, 11:11