zurück 17.12.1877, Montag ID: 187712175

Besprechung der 3. Symphonie in der »Wiener Zeitung (Abendpost)« Nr. 288 auf S. 2f (Signatur »h« [= Ludwig Benedikt Hahn]):
          »Concert.
      h. Gestern ging das zweite ordentliche Concert der Gesellschaft der Musikfreunde vor sich. Am Dirigentenpulte stand noch Herr Joseph Hellmesberger; aber er nahm in seiner Eigenschaft als provisorischer Leiter der Gesellschaftsconcerte Abschied. [... Ungenauigkeiten bei Egmont-Ouvertüre ... Grün mit entschuldbaren Intonationstrübungen ... der rauschende Beifall für Schuch-Proska nicht berechtigt ... Beethovens Chor hätte ohne Verluste wegfallen können ...] Die Schlußnummer bildete eine Riesensymphonie (D-moll) von Bruckner, welcher die Leitung seines Werkes persönlich führte. Es ist das ein ganz ungeheuerliches Werk, dessen Wagnisse und Seltsamkeiten sich nicht mit wenigen Worten charakterisiren lassen. Es sei uns also gestattet, auf dasselbe zurückzukommen. Es arbeitet in dieser verblüffenden Musik ein ungezügelter und ungeschulter Naturalismus, dem keine Rohheit zu groß, kein logischer Sprung zu weit ist und der das Unerhörteste mit einer wahrhaft kindlichen Gutgläubigkeit begeht. Herr Bruckner mordet Vater und Mutter mit der Ueberzeugung, das müsse so sein. [... Generalpausen ... Fieber ... dennoch interessant ... Publikumsflucht ...] so daß das Finale, welches an Absonderlichkeit alle seine Vorgänger überbietet, nur mehr vor einer kleinen Schaar zum Aeußersten entschlossener Waghälse abgespielt wurde. Es sei fern von uns, diese traurige Unsitte des Wiener Publicums in Schutz nehmen zu wollen.« (*).

Auch die »Morgenpost« Nr. 346 bringt auf S. 3 eine Kritik:  
     » * Das zweite Abonnements=Concert der Musikfreunde ließ an Geschmacklosigkeit des Programmes nichts zu wünschen übrig. [...] kommen wir auf die Novität des Programmes, eine Symphonie in d-moll von Anton Bruckner. Mit Wahrheit - was wir an Symphonien noch gehört haben, einer solchen Mißgeburt sind wir bis heute noch nicht begegnet. Was an Geschmack- und Gedankenlosigkeit, an gehirnerschütternder Instrumentation zu leisten möglich ist, das leistet Bruckner in seiner neuen Symphonie. Von einer Form ist nicht die Rede, von einem redlichen, herzlichen Gedanken oder bloßem Anspielen an einen solchen nicht die Rede, was bleibt da Anderes zu bieten übrig, als was Herr Bruckner geboten. Das Werk verdient wirklich nicht, daß man darüber nachdenkt, denn es bietet keinen Stoff dazu. Mag man immerhin von hoher sittlicher und ethischer Bedeutung phrasiren, zur Musik braucht man Talent und nur Talent; Bruckner und Brahms werden sterben und  ihre ethischen Einflüsse gleich Null sein. Eine geniale Schöpfung wirkt nur durch echten, musikalischen Gehalt, was aber Herr Bruckner geboten, kann auf tiefere Wirkung nicht rechnen, denn es ist keine Schöpfung, sondern das musikalische Chaos! Für den Applaus sorgten einige Schüler und blinde Anhänger des Compositeurs. Die Wenigen, welche noch im Parterre waren, staunten, schüttelten den Kopf und - gähnten. Recht so! [Signatur:] "M. A-r." [= M. Adler]) (**).


Zitierhinweis:

Franz Scheder, Anton Bruckner Chronologie Datenbank, Eintrag Nr.: 187712175, URL: www.bruckner-online.at/ABCD-187712175
letzte Änderung: Feb 02, 2023, 11:11