zurück 23.12.1877, Sonntag ID: 187712235

Kritik Eduard Kulkes [nicht: Eduard Kremsers] über die 3. Symphonie, signiert »Ed. K.«, im »Vaterland« auf S. 3, Beiblatt zu Nr. 351:
     »Theater= und Kunstnachrichten.
Zweites Gesellschaftsconcert. Ein Memento von Dr. A. W. Ambros von Dr. Laurencin. Kalender für die musikalische Welt.
     Ed. K. Man muß immer und immer wieder auf den Verlust zurückkommen, welchen die Gesellschaft der Musikfreunde durch den Tod Herbeck's erlitten hat, wenn man von den Concerten dieser Gesellschaft reden will. [... über Hellmesbergers Leistung und Überbelastung ...]
     Das Programm des zweiten Gesellschaftsconcertes war ein sehr, fast zu sehr reichhaltiges, daher kam es auch, daß ein Theil des Publicums sich bereits vor der letzten Nummer zu entfernen begann. Diese Entfernung setzte sich in den Pausen zwischen den einzelnen Sätzen der letzten Nummer mit einer erschreckenden Regelmäßigkeit fort, und nur der Ausdauer einer kleineren Schaar von Unermüdlichen ist es zu danken, daß das Finale der neuen Symphonie nicht vor leeren Bänken heruntergespielt wurde. Ja, es war eine neue Symphonie, welchem ein Theil des Publicums so wenig Beachtung schenkte, und zwar eine wirklich neue, nicht nur der Anzeige gemäß, sondern auch der Sache nach. Die Symphonie ist von Anton Bruckner, und ihre Aufführung im jüngsten Gesellschaftsconcerte gehört noch mit zu der geistigen Hinterlassenschaft Herbeck's, welcher dieses Werk sofort auf's Programm setzte, als er erfuhr, daß es von den Philharmonikern abgelehnt worden sei. Wenn Herbeck für alle Welt gestorben ist, so ist er für Anton Bruckner doppelt gestorben, denn Herbeck wußte dieses eigenthümliche Talent zu schätzen, wie Wenige. Im Publicum scheint das Werk sehr entgegengesetzte Meinungen hervorgerufen zu haben, wie alles wirklich Neue. Zwar will ich nicht behaupten, daß Alle diejenigen, welche sich zwischen den einzelnen Sätzen auf und davon machten, dies aus Mißachtung gegen das Werk gethan; es war aber bereits eine ziemlich vorgerückte Stunde und wir sind in Wien in neuerer Zeit an kürzere Concertdauer gewöhnt worden. Immerhin aber zeigt [sic!] solche Eile gerade auch nicht von einer besonderen Neugierde, die Bekanntschaft eines neuen Werkes zu machen. Am Schluße nach dem vierten Satz gab sich von Seite der in dem Saal zurückgebliebenen ein rauschender und lebhafter Beifall kund, und es will einem so spontanen Ausdrucke der Anerkennung gegenüber wenig besagen, wenn sich in einzelnen Stimmen hie, und da auch eine feindselige Opposition Luft zu machen sucht. So viel über den äußeren Verlauf. Soll ich selbst auch meine Meinung hieher setzen, so sage ich von Bruckner's neuem Werke: groß und genial in einzelnen Zügen, aber nicht einheitlich und durchsichtig genug in seinem inneren Zusammenhange. Bruckner hat Momente, Phantasieblitze, wie sie nur bei den großen Genie's vorzukommen pflegen; diese Momente sind aber zu rasch vorübereilend, diese Blitze weichen wieder zu rasch einer Verfinsterung, und der Strom der Empfindung, der dem Ganzen den inneren Gehalt verleiht, fließt nicht breit und voll, nicht andauernd genug, um uns mit fortzureißen. Seine Erfindung ist genial, seine Concentrationskraft hält dieser genialen Erfindung nicht die Stange; seine Empfindung ist tief, allein es fehlt ihr der lange Athem, und so macht das Ganze, trotz aller wunderbaren Details nicht den Eindruck eines geschlossenen und in sich abgerundeten künstlerischen Organismus.
   Anton Bruckner ist mein persönlicher Freund, und ich lobe ihn, ich gestehe es aufrichtig, sehr gern; ich darf zwar die mir hervortretenden Mängel seiner Composition nicht mit Stillschweigen übergehen; ich habe aber nichts hieher gesetzt, was ich ihm auch persönlich zu sagen nicht den Muth hätte. Im Ganzen ist sein Werk eines der interessantesten auf dem Gebiete der neueren symphonischen Literatur. Einige Anklänge an die neunte Symphonie Beethoven's im ersten Satze abgerechnet, ist die Structur eine derartige, daß dem Hörer sicher eine gewisse Verwandtschaft mit Wagner und Liszt auffallen wird. Dadurch gerade aber unterscheidet sich Bruckner so vortheilhaft von vielen anderen Componisten unserer Tage, welche die Wege Wagner's und Liszt's wandeln; die meisten dieser sind rohe Nachahmer; Bruckner ist dies nicht. Bruckner hat den Styl Wagner's und Liszt's ebenso in sich aufgenommen, wie den Beethoven's, er hat von Allen gelernt, ist aber ein selbstständiger Mann; sein Styl ist mit dem Style der Meister, deren Jünger er sich nennen darf, zweifelsohne verwandt, wie dies ja gar nicht ander möglich ist, aber die Verwandtschaft ist etwas anders als eine bloße Copiatur; diese Verwandtschaft schließt die Selbstständigkeit nicht aus, und sollte es ihm gelingen, seine Kraft mehr zu concentriren, so daß wir in Zukunft bei Betrachtung seiner Werke nicht nur von den Einzelheiten, sondern von dem festen einheitlichen Baue des Ganzen gefesselt werden, so wird diesem ernsten, nach dem Höchsten strebenden Künstler der wohlverdiente Kranz auch sicher nicht ausbleiben.
   [... über die anderen Konzertnummern ... über Laurencins Schrift über Ambros ... über den von Fromme herausgegebenen und von Theodor Helm redigierten »Kalender für die musikalische Welt« ...] (*).
Auf der nächsten Seite wird gemeldet, dass Rudolf Weinwurm vom Posten des Chormeisters des Wiener Männergesangvereins zurückgetreten ist. (*a).

Bruckner trifft in St. Florian ein. Im Gästebuch ist verzeichnet "Bruckner" und die Anzahl der Mahlzeiten mit "9" angegeben. Im Fremdenbuch ist notiert "Anton Bruckner, Prof. d. Musik, Wien". Er fährt am 27.12.1876 ab (**).


Zitierhinweis:

Franz Scheder, Anton Bruckner Chronologie Datenbank, Eintrag Nr.: 187712235, URL: www.bruckner-online.at/ABCD-187712235
letzte Änderung: Feb 02, 2023, 11:11