zurück 1.12.1892, Donnerstag ID: 189212015

Kurzkritik zur Aufführung des 150. Psalms [am 13.11.1892] in der »Lyra« XVI, Nr. 5 (424), auf S. 3 [= S. 41]:
"               Wiener Concerte.
    Die Gesellschaft der Musikfreunde hatte ihr erstes diesjähriges Concert buntgemischt ausgestattet; [... neben Schuberts Ouvertüre und Mendelssohns "Loreley" mit Frl. Standhartner als Solistin ...] traten zwei Neuigkeiten hervor: ein Psalm unseres greisen Meisters Bruckner und „Wanderers Sturmlied” von Richard Strauß, zwei Werke, die beide sich sämmtliche Errungenschaften der neudeutschen Schule zu Nutze machen, also zum richtigen und treffenden Ausdruck sich aller harmonischen und orchestralen Kunst bedienen. Daß dabei an Chor und Orchester die größten Anforderungen gestellt werden, ist beinahe selbstverständlich. [... über Richard Strauss ...] Der Bruckner'sche Psalm ist ein moderner Händel, so kraft= und lebensvoll in der Erfindung; dabei klingt er majestätisch und ist so knapp und abgerundet in der Form, wie kaum ein anderes Werk des Meisters. Zur Eröffnung der Musik= und Theater=Ausstellung war der Psalm, wie so manches andere ... zu spät fertig geworden; dafür hat er das heurige Concertjahr glänzend eröffnet. [... über Liszts Klavierkonzert mit Adele aus der Ohe, über Philharmonische Konzerte ...]" [keine Signatur] auf S. 3 (*).

Die Internationale Musik- und Instrumenten-Zeitung bringt auf S. 3f ein Feuilleton von Otto Keller, in dem auch Bruckner genannt wird:
"SÄNGER-ZEITUNG. | Organ für die Interessen des Männer-Gesanges. | Unter Mitwirkung der hervorragendsten Fachmänner redigirt von EDUARD KREMSER. | Beiblatt der "Internationalen Musik-Zeitung." [...]
Die Componisten des österreichischen Männergesanges.
     Der vierstimmige Männergesang ist seit dem ersten Tage seines Bestehens ein getreues Spiegelbnild seiner Zeit. Was das Herz des deutschen Mannes je bewegt, was ihn mit Freude oder Trauer erfüllt. das lässt er im Lied ertönen. [... Herbeck, Franz Mair (geb. 11.3.1821), der ] mit jedem neuen Werke neue Freunde und begeisterte Verehrer erwarb. In der Geschichte des österreichischen Männergesanges ebenfalls unvergänglich eingeschrieben sind Anton Bruckner (geboren am 4. September 1824 zu Ansfelden in Oberösterreich), der mächtig emporstrebende, aber die Schranken der Gesetze weit überschreitende Epigone Beethovens, der leider zu früh dahingeschiedene Lyriker E. S. Engelsberg [... mit Lebensdaten, auch bei Rudolf Weinwurm, Heinrich Fiby, Thomas Koschat, Eduard Kremser, außerdem Ignaz Machanek, J. C. Metzger, Ernst Stoiber, Franz Mögele, Ernst Schmid, dessen Bruder Carl Schmid, Ferdinand Debois, Max von Weinzierl, C. R. Kristinus, Franz Köstinger, Adolf Schmidt, Joseph Pombauer, Johann Forster, Max Joseph Beer, Dr. J. Pommer, Wilhelm Gericke, Robert Fuchs und Richard Heuberger ... einige Vertreter der jüngsten Generation ...]
          Otto Keller." (**).

Die Musikalische Rundschau Nr. 28 informiert in einem Inserat [wie 15.10.1892], daß bei Doblinger der 150. Psalm und die 2. Symphonie erschienen sind: "Novitäten von Anton Bruckner.
Der 150. Psalm, Clavierauszug mit Text arr. von C. Hynais netto fl. 2.40, Singstimmen fl. 1.20; Partitur netto fl. 6.–, Orchesterstimmen netto fl. 6.–.
Zweite Symphonie C-moll. Clavierauszug zn [sic] vier Händen arr. von Josef Schalk fl. 7.20, Orchesterpartitur netto fl. 18.–, Orchesterstimmen netto fl. 18.–.
Grosse in allen Fächern der Musik reich assortirte MUSIKALIEN-LEIH-ANSTALT. [...]
LUDWIG DOBLINGER (Bernhard Herzmansky) [...]." (***).

Auf S. 234 ein Bericht über das Konzert vom 13.11.1892 mit dem 150. Psalm:
"                   Wiener Concerte.
     Wie zur Bestätigung unserer letzhin ausgesprochenen Ansicht von der Nachwirkung der Theater- und Musikausstellung auf unsere diesjährige Concertsaison [Max Graf am 15.10.1892] wies das erste Gesellschaftsconcert zwei neue Werke auf – mahnende Erben der vergangenen Ausstellung. Der 150. Psalm von Anton Bruckner hätte mit seinen weihevoll erhebenden Klängen das Ausstellungswerk einweihen sollen, das "Sturmlied" von Richard Strauss hätte in den Tagen des deutschen Musikfestes zur Aufführung gelangen sollen. Zwei grosse Kunstleistungen – sie fehlten schliesslich – natürlich möchte ich sagen – im Rahmen der Ausstellung. [...].
     Das neue Werk Altmeister Bruckner's gehört zu den grossartigsten Tonschöpfungen unseres einheimischen Tonmeisters. Tiefe religiöse Empfindung, gewaltige festliche Erhebung. markige, selbstbewusste Kraft und Grösse der Erfindung schliessen sich zu einem gewaltig aufstrebenden Baue. Ja, noch mehr, wir finden in dem neuen Werke eine Einheit der Conception, wie sie nur noch vom ersten Satze der Es-dur-Symphonie ("romantische") erreicht wird. Um von der Klarheit seines Aufbaues den Beweis zu geben, sei dieser einer kleinen Analyse unterzogen.*) [Fußnote: "*) Dieselbe erfolgt nach dem von Cyrill Hynais sehr geschickt arrangirten Clavierauszuge (erschienen im Verlage von Ludwig Doblinger)."]
     Das Werk zerfällt in zwei grosse, deutlich von einander geschiedene Hauptsätze, welchen die gleiche Einleitung ein feierlich imposant eintretender Chorsatz "Halleluja" (C-dur), der in kräftiger Weise auf die Dominante, cadencirt vorangeht. (Einleitung Seite 2 bis Seite 3 A.**) [Fußnote: "**) Die Buchstaben beziehen sich auf die Buchstabeneintheilung des Clavierauszuges."] I. Hauptsatz Seite 3 A bis Seite 11 K. – Einleitung Seite 11 K bis Seite 12 L, II. Hauptsatz [Fuge] Seite 12 a bis Schluss).
     Der erste Haupttheil zerfällt wiederum in zwei deutlich geschiedene Theile (1. A bis E, 2. E bis K), welche beide in ruhiger altkirchlicher Weise cadenciren. Der erste Theil trägt sanften Charakter und steigt von Phrase zu Phrase in chromatischen Stufen, As-dur, A-dur, H-dur, um über Es-dur in die Dominant einzulenken, der zweite schwillt stärker an, von einer constanten Streicherfigur umgeben, um auf A-moll zu cadenciren.
     Der zweite Haupttheil ist eine gewaltige chromatische Fuge, basirt auf c' c des des', welche durch das – von der alten Harmonielehre verpönte, von Wagner in der Meistersingerfuge angewandte – Mittel der Rosalie (chromatisches Hinauftreiben des Motivs) zu einem überwältigenden reinen C-durabschluss (Soprane bis c'') aufsteigt.
     So zeigt sich Bruckner's Werk als Bild einer gewaltigen musikalischen Erfindung, die sich in regelmässigsten Grenzen bewegt: die Analyse hat es wohl aufs Deutlichste dargethan. Das Skelett des Psalmes ist also:
     I. Einleitung C-dur Dominantschluss (G-dur).
     II. I. Haupttheil [Schweifklammer vor a und b] As-dur, A-dur, Hdur über Es-dur in den Dominantschluss (G-dur). | b Durchführung A-moll-Schluss.
     III. Einleitung C-dur – Dominantschluss (G-dur).
     IV. 2. Haupttheil – chromatische Fuge.
     V. Schluss I und III verwandt C-dur.
     Stimmungsverwandt mit dem Bruckner'schen Tonwerke ist das "Sturmlied" von R. Strauss. Ist ja der alte Meister Bruckner noch immer in Stürmer und Dränger, und mit dem jungen Componistengeschlechte ein Junger geblieben. Richard Strauss ist der Hervorragendste der jungdeutschen Componisten [...]" (°).


Zitierhinweis:

Franz Scheder, Anton Bruckner Chronologie Datenbank, Eintrag Nr.: 189212015, URL: www.bruckner-online.at/ABCD-189212015
letzte Änderung: Okt 03, 2023, 10:10