zurück 19.12.1892, Montag ID: 189212195

Brief von Amand Loidol an Oddo Loidol:
   Sendet ihm das Programm von der 8. Symphonie. Saal und Orchester waren größtmöglich besetzt. Kronprinzessin Stephanie und Siegfried Wagner waren anwesend (*).

In der Universitätsvorlesung erzählt Bruckner von der 9. Symphonie; gestern sei ihm das »Todesthema« eingefallen (**).

Johann Strauß äußert sich begeistert über die 8. Symphonie (***).

Besprechungen der 8. Symphonie durch Kalbeck in der Wiener Montags-Revue Nr. 51 auf S. 6 (signiert »M. K.«):
         "Philharmonisches Concert.
     Das gestrige (vierte) Philharmonische Concert war ein in jeder Beziehung ungewöhnliches. Als kürzestes aller derartigen Concerte brachte es die längste alle Symphonien und weiter nichts. Auf dem Programme prangte nur eine Nummer: Anton Bruckner's achte Symphonie in C-moll. Dabei stand, was sonst auch nicht Gebrauch ist, die Widmung zu lesen: "Sr. k. und k. Apost. Majestät Kaiser Franz Josef I." Da das Werk eine Novität war, so fand die erste Aufführung desselben also sub auspiciis imperatoris statt und dem Publicum wurde es demgemäß hnahegelegt, von dem Rechte seiner freien Meinungsäußerung den für den Componisten allein wünschenswerthen Gebrauch zu machen. Diese kluge Vorsichtsmaßregel stand nicht im Einklange mit der herausfordernden Kühnheit der Direction, welche den Abonnenten zumuthete, sich eines noch unerprobten Werkes wegen, in ihren Freiheiten und Privilegien verkürzen zu lassen. Selbst ein so hoch über jeden Zweifel erhabenes Kunstwerk, wie Beethoven's Neunte Symphonie, deren Aufführung für alle Welt ein musikalisches Fest bedeutet, pflegt nicht als Solitär  an [kopie unvollständig] und keine Devotionszeile verräth dem in Ehrfurcht vor dem Genius Beethoven's erschauernden Zuhörer, daß das unsterbliche Musikwerk dem König Friedrich Wilhelm III. von Preußen zugeeignet ist. Zum Glück erwies sich die Cautel als überflüssig und selbst die auf das Schlimmste gefaßten Besucher des Concertes waren damit einverstanden, daß sie eine halbe Stunde früher als gewöhnlich nach Hause geschickt wurden. Denn die neue Bruckner'sche Symphonie hat, wenn auch nicht in allen ihren einzelnen Theilen, so doch im Ganzen einen überraschend günstigen Eindruck hervorgebracht und sich der eigenthümlichen Auszeichnung, die ihr widerfuhr, keineswegs unwürdig gezeigt.
     Unter den bisher an die Oeffentlichkeit gelangten Werken des Componisten nimmt sie ohne Zweifel die erste Stelle ein; sie übertrifft die früheren Arbeiten Bruckner's durch Klarheit der Disposition, Uebersichtlichkeit der Gruppirung, Prägnanz des Ausdruckes, Feinheit des Details und Logik der Gedanken, womit indessen keineswegs gesagt sein soll, daß wir sie als ein nachahmenswerthes Musterexemplar ihrer Gattung ansehen und empfehlen möchten. Im Gegentheil wünschen wir an mehr als einer Stelle des Werkes uns einen erfahrenen und kaltblütigen Praktikus herbei, damit er, mit der Scheere des Redacteurs und dem Rothstift des Censors bewaffnet, den ausschweifenden Launen des Componisten Halt gebiete und sein übermächtiges Wollen auf das vernünftige Maaß eines bescheidenen Könnens zurückführe. Mancher abendteuerliche [sic] Seitensprung, mancher barocke Einfall, manche nichtssagende Phrase, manche zur fixen Idee ausartende Schrulle müßte dem Ganzen zu Liebe geopfert werden. Wozu diese ewigen Wiederholungen subalterner Tonfiguren [,] dieses manierirte plötzliche Abreißen des thematischen Fadens, diese jäh wechselnden Orkanausbrüche und Windstillen, diese vielen rein äußerlichen harmonischen und dynamischen Steigerungen, diese auf allen Culminationspunkten der Durchführung losschmetternden Fanfaren und Orchestertusche? Ein Drittel der umfangreichen Partitur wäre über Bord zu werfen, um den stattlichen Segler für seine Reise um die musikalische Welt flott zu machen. Und mit einer solchen, schon aus praktischen Rücksichten gebotenen Reduction hatten [hätten] die berathenden Freunde des Componisten sich wahrhaftig größere Verdienste um ihn und sein Werk erworben als mit dem mystischen Halbunsinn einer der Symphonie nachträglich angehängten verdunkelnden Erläuterung, aus welcher sehr zur Unzeit der Schalk hervorblickt.
     "Eine Gestalt," heißt es in dem symbolisirenden Commentar zum zweiten Satze, "welche solche Qualitäten (derbes Kraftgefühl und naive Phantastik) in volksthümlicher Weise verkörpert, stellt sich wohl als ein Gemisch von Eigensinn und Einfalt, von biederem und doch zugleich seltsam unberechenbarem Wesen dar, und so läßt es sich vielleicht annähernd erklären, wenn in halb unbewußter Empfindung hievon, der Componist selbst diesem Satze den merkwürdigen Namen des "Deutschen Michel" gegeben hat." Derselbe "Deutsche Michel" soll eine parodistische Verkleinerung des griechischen Prometheus sein, der angeblich im ersten Satze charakterisirt wird, und soll endlich im Finale "in strahlender Rüstung und mit geschwungenem Schwerte, gleich seinem Namensbruder, dem Erzengel" hervortreten. Wie kommt der Narr in die Gesellschaft der Heroen und Götter? Ob sich Bruckner bei dem Scherzo des deutschen Michel oder überhaupt etwas gedacht hat, ist uns sehr gleichgiltig. Sein Scherzo braucht keinen besonderen Helden, seine Symphonie kein Programm, um genau so zu wirken, wie es in den musikalischen Intentionen des Componisten lag. Wir nehmen Bruckner gegen seine Freunde und gegen sich selbst in Schutz. Der Zuhörer, dessen Theilnahme von Anfang an gewonnen ist, folgt ihm von dem bedeutenden Allegro durch das originelle Scherzo und gesangreiche Adagio über alle Lücken und Unebenheiten des Werkes hinweg mit reger Aufmerksamkeit und stets wachsendem Interesse, und wenn ihm während der endlosen, Episode an Episode anstückelnden Flickarbeit des von tausend deutschen Micheln besessenen Finalsatzes die Geduld ausgeht, so kann weder der programmatische "im Dienste des Göttlichen wirkende Heroismus", noch die contrapunktische Vereinigung sämmtlicher Hauptthemen daran etwas zu seinen Gunsten ändern.
     Das Finale ist den Unterirdischen verfallen; die anderen Sätze würden wir gern wieder hören, und wäre es auch nur, um uns an dem prachtvollen Orchesterklange der Symphonie zu weiden, die den Componisten als bewunderungswürdigen Meister der Instrumentation zeigt. Mit der glänzenden Aufführung des schwierigen, doppelt und dreifach besetzten Werkes haben Hans Richter und das Hofopernorchester gerechte Ansprüche auf einen der vielen Lorbeerkränze erworben, die der mit Beifall überschüttete Componist nach jedem Satze der Symphonie empfing.     M. K." (°)

und Heuberger im Wiener Tagblatt (°°).

Bericht "Bruckners achte Symphonie", signiert "h-m." (Theodor Helm), in der Deutschen Zeitung (°°°).

Kurzkritik (signiert »C. H.« [Camillo Horn]) im Deutschen Volksblatt Nr. 1424 auf S. 6:
"             Bruckner's achte Symphonie errang bei ihrer gestrigen ausgezeichneten Wiedergabe durch die Philharmoniker ganz besonderen Erfolg, wie dies bei der Meisterschaft unseres einheimischen Tondichters nicht anders zu erwarten war. Insbesondere gefielen der erste Satz, sowie das Scherzo, während in das Kunstwerk näher Eingeweihte ihren Beifall namentlich nach dem großartigen Schlußsatze zu stürmischem Ausdrucke brachten, so daß der anwesende Componist nicht genug danken konnte. Auch mehrere Kranzspenden wurden dem leider so lange Vernachlässigten und immer noch nicht nach Gebühr Gewürdigtem zutheil. Der Concersaal war überfüllt; Freund und Feiund waren erschienen, um dem anerkannt großen musikalischen Ereignis beizuwohnen. Frau Erzherzogin Maria Theresia beehrte das Concert mit ihrer Gegenwart. Auf das Werk selbst kommen wir in kürzester Zeit behufs ausführlicher Besprechung noch zurück.
                                                                 C. H." (#).

Das Illustrierte Wiener Extrablatt Nr. 351 bringt auf S. 5 eine mit »K. St.« [= Königstein] signierte Kritik:
          "Concerte.
     Von allen Symphonien aller Componisten genoß bisher nur Beethoven's Neunte die Auszeichnung, in einem Philharmonischen Concerte allein auf dem Programme zu stehen; ein höchster Gipfel der Kunst, an welchen sich kein anderer herantraut. Doch nein! Selbst diesen Solitär wagten die Philharmoniker nicht ohne die Fassung einer kleinen Ouverture dem vielsinnigen Geschmacke eines vielköpfigen Publicums vorzusetzen. Mit Bruckner's achter Symphonie in C-moll haben sie es gewagt. Sie figurirte auf dem Programm des gestrigen Philharmonischen Concertes großgedruckt, wie die Ankündigung eines epochalen Ereignisses. Ist sie dies wirklich? Im Hinblicke auf ihre Länge gewiß; denn ihre Dauer beträgt geschlagene anderthalb Stunden. Im Hinblicke auf ihren Schöpfer vielleicht; denn sie legt Zeugniß ab für die verschwenderische Fülle der Natur, welche im Kopfe eines Greises eine schier unübersehbare Fülle großer, nicht selten blendender Ideen entstehen ließ. Im Hinblick auf ihre Form, auf das Entscheidende bei jedem Kunstwerke ist sie es leider nicht. Wol zeigt die achte Symphonie Bruckner's gegenüber seinen früheren Symphonien ein nicht erfolgloses Streben, die einzelnen Sätze einheitlicher zusammenzufassen und die Verbindung der Themen organischer zu gestalten. Allein zur künstlerischen Klarheit hat er sich noch nicht durchgerungen, und während seine Phantasie in der Erfindung noch jugendlich überschäumt, verräth die Diction schon die behäbige Geschwätzigkeit des Alters. Jeder der vier weitausgesponnenen Sätze bringt ein grandioses Hauptthema, das auf seine Entwicklung und weitere Durchführung gespannt macht. Am Schlusse eines jeden Satzes aber ist die Enttäuschung eine vollkommene. Jedesmal bildet das Auftreten des Seitenthemas das Signal zum Beginne eines nebelhaften Auf- und Niederwogens von Motiven und Themen, die rein äußerlich - denn wo Motive fehlen, stellt eine Modulation zu rechter Zeit sich ein - aneinander modulirt sind, bis Alles, Themen und Baßgeigen, Harfen und Motive, Pauken und Programmtext in einen symphonischen Fogg, wie die dicken Londoner Nebel heißen, zusammenschmelzen, in welchem das formal gebildete Ohr nicht einen Tact weit sich zu orientiren vermag. Der Jugend, die sich gestern überzahlreich eingefunden hatte, mag solches Wogen und Gähren [sic] ehrlich gefallen: sie ist doch selbst im Sturm und Drang befangen und wittert in den Schöpfungen des greisen Jünglings einen verwandten Geist. Sie hat denn auch gestern der C-moll-Symphonie, zu welcher ein Anonymus einen phantastischen Text geschrieben hat, der mit Prometheus beginnt und mit dem Erzengel Michael aufhört, einen lautrauschenden Erfolg bereitet, dem Componisten zahlreiche Hervorrufe und mehrere Lorbeerkränze zugemittelt. Wir gestehen, daß, wenn wir uns ein symphonisches Schicksalslied in C-moll vorsingen lassen wollen, mit Beethoven's Schicksalssymphonie (Nr. 5) den Vorzug vor der Bruckner'schen geben würden.
     An sonstigen musikalischen Ereignissen brachten die letzten Tage [... über weitere Konzerte ... Quartett-Soirée mit einer Fülle musikalischer Herrlichkeit ...] Bei Hellmesberger versteht sich das übrigens von selbst.     k. st." (##).

Bericht von Max Graf in der Extrapost Nr. 570 (Wiener Montags-Journal) auf S. 4f:
"   Theater, Kunst und Literatur.
           Bruckner's achte Symphonie.

(Erste Aufführung im vierten philharmonischen Concerte den 18. December 1892.)
     Nach der Probe seiner neuesten Symphonie (Nr. 8 C-moll), welche ganz allein das gestrige philharmonische Concert ausfüllte, meinte Meister Bruckner: "Sechsmal haben sie sie gespielt, wissen aber noch immer nicht, was sie von ihr halten sollen" Nach Durchsicht der complicirten Partitur des Riesenwerkes hegten auch wir Zweifel, ob das Publicum wissen würde, was es von der Bruckner'schen Musik halten sollte. Glücklicherweise sahen wir uns in unserer pessimistischen Voraussetzung getäuscht: Das Werk traf auf ein hingebendes Verständniß der Zuhörer und erregte selbst dort, wo dieses fehlte, keinen Widerspruch. [... Hans Richter als eiserner spiritus rector ... "neue Formen nach eigenen Gesetzen" ... Mittelpunkt ist] die Individualität des Schöpfers.
     Bruckners Individualität ist unberechenbar: derselbe Künstler, der in dem Aufbau riesenhafter Orgelpunkte straffstes Zusammenfassen der Hauptideen zeigt, erweist sich in der weiteren Entwicklung oft als sprunghaft, der logischen Consequenz entbehrend. Häufen sich ja in seinem Geiste so viele Ideen, daß er sie kaum ordnen kann; seine Gedanken, herrliche große Gedanken übersprudeln, und hieraus entsteht oft der Eindruck des Mosaikartigen seiner Werke. Wir glauben nicht zu irren, wenn wir annehmen, daß sich Bruckner im zweiten Satze der Symphonie  (allegro moderato ¾) selbst ironsirte.
     Den "deutschen Michel" hat ihn Bruckner benannt und ganz ergötzlich schildert die Musik, wie der deutsche Michel oft mimikt, und sich plötzlich wieder aufrafft Wie oft tritt es uns in Symphonien Bruckner's entgegen, daß – quandoque domitat bonus Bruckner – die Motive sich zu verlaufen scheinen, um sich plötzlich zum Entscheidungsschlage zu sammeln. Das ist des Meisters Art, welche im Außensatze des Scherzes [sic] brillant ironisirt wird. Dafür finden wir im straff gefaßten Mittelsatz (langsam 2/4) einen anderen Bruckner: wie entzückend ist z. B. die Stelle, da mit einigen auf langgehaltenen Hornaccorden gestrueten Harfenaccorden Frühlingsstimmung in's Werk weht.
     Freilich im ersten Satze prallen gleich mit den ersten Noten (Grundton von Violinen und Hörnern gebracht: f, das Motiv stößt im Secundintervall dazu: f-ges) tragische Contraste furchtbar aufeinander. Leider fehlt uns hier der Raum zur eingehenden Würdigung der Einzelschönheiten, nur darauf wollen wir hinweisen, wie nach dem stürmischen ff-Hinauftreiben der Motive des ersten Satzes ein Trugschluß zum pp Ausklingen des zerbröckelnden Hauptmotivs führt. Das sind die Töne tiefster Tragik. Ein ähnliches Ende findet sich auch im Adagio (feierlich langsam Des-dur), das auf den Fittichen echt religiöser Weihe himmelwärts strebt. Den siegreichen Abschluß erhält das Werk durch den vierten Satz. Gleich das ritterliche von den Bläsern festlich getragene Eingangsmotiv führt in eine andere Welt, als die der ersten Sätze. In einer Fülle von Themen entwickelt sich das Bild einer regsamen friedensvollen Thätigkeit, welches ein Uebereinanderthürmen der Hauptthemen der drei ersten Sätze (Hauptmotiv, der in breiten Tönen jubelnde "deutsche Michel" und Adagiothema) krönt. Vor diesem cyklopischen Abschlusse, welcher in seiner Freiheit an [sic] die mühsame contrapunktische Geistesarbeit vergessen läßt, standen wir mit der Empfindung, das Höchste bewundern zu dürfen, was gewaltige künstlerische Idealität im Verein mit höchstentwickelter technischer Meisterschaft zu leisten vermag.
     Es war ein Ehrentag für den greisen Meister und ein Festtag für die Zuhörer, welche solcher Geniethaten schon lang entwöhnt sind.
                                                         Max Graf." (###).


Zitierhinweis:

Franz Scheder, Anton Bruckner Chronologie Datenbank, Eintrag Nr.: 189212195, URL: www.bruckner-online.at/ABCD-189212195
letzte Änderung: Mär 30, 2023, 12:12