zurück 25.12.1892, Sonntag ID: 189212255

Kritik der 8. Symphonie von Ludwig Speidel im Fremdenblatt Nr. 357 auf S. 5:
"     [... über Verdis Requiem und die auch in Deutschland verloren gegangene Kunst, eine gute Fuge zu schreiben ... Beethoven übe sich darin wie einer, der sich zu einem Pistolenduell einschießt ...] Und da soll Verdi, der in seinem Italien viele tausend Meilen weit von aller kontrapunktischen Kultur ab liegt, eine gute Fuge schreiben?
     Ein anderer Mann, der in Simon Sechter's Schule, also in der Kontrapunktik aufgewachsen, Anton Bruckner, hat eine neue Symphonie in den Konzertsaal gebracht. Es ist die Symphonie in C-moll, seine achte. In dem Finale des Werkes steckt eine unendliche Arbeit; der Komponist thürmt die Hauptmotive sämmtlicher Sätze übereinander, um den Himmel zu stürmen. Es ist ein titanisches Unternehmen, das an der eigenen Maßlosigkeit scheitert. Wir wenden uns lieber zu den früheren Sätzen zurück, zumal zum Anfangssatze und zu dem Scherzo. Das Scherzo ist der in sich geschlossenste Satz: im ersten Theile prägnante, entwicklungsfähige und energisch entwickelte Motive, im Trio eine Seele voll Gesang. Bruckner selbst nannte diesen Satz in einem Gespräch meist nur den "deutschen Michel". Das Hauptmotiv sei das Liedchen Michel's und die Umkehrung des Motivs bedeute, daß dem Michel sein eigenes Lied nicht mehr einfalle; dann liege Michel auf einem hohen Berge und schaue weit ins Land hinaus. Ein Freund Bruckner's hat in einem Programme zu der Symphonie den gefesselten Prometheus mit dem deutschen Michel zusammengekoppelt. Das klingt lächerlich, ist es aber nicht ganz. "Michel" ist nach deutscher Wortbedeutung der Große, und die Herabwürdigung seines Charakterbildes hat ihm auf die Dauer nicht geschadet. Ist in Bruckner's Physiognomie nicht ein ähnlicher Widerspruch, wie in jenen zwei Gestalten? In ihr mischen sich Züge eines deutschen Meßners mit Zügen eines römischen Imperators. Wenn nun das Programm dem Finale gegenüber von Verkündern ewiger Heilswahrheit und Herolden der Gottesidee redet, so widerspricht das entschieden der Auffassung Bruckner's, der in diesem Finale eine Kaiserzusammenkunft in Warschau erblickt und das Klopfen der Geigen als das Stampfen der Kosakenpferde auslegt. Doch wer wollte die Meinung der Musik festhalten! Sie schielt nach allen Seiten, und je größer der Tonsetzer ist, desto weniger weiß er, was er gewollt hat. Wir glauben auch, daß Bruckner in dem groß angelegten und energisch durchgeführten ersten Satze seiner Symphonie nichts als Musik gewollt hat. Im Adagio, das sich maßlos dehnt, vermissen wir den großen, breiten Gesang, der die parallelen Sätze in Bruckner's sechster Symphonie und seinem Streichquintett auszeichnet. Bruckners C-moll-Symphonie füllte das ganze vierte Konzert der Philharmoniker. Die Ausführung unter Hans Richter's Leitung ist ein Meisterstück ersten Ranges gewesen. Bruckner ist mit Beifall und Lorbeeren überschüttet worden.
     [... über Konzerte des Hellmesberger-Quartetts und des Wiener Männergesangvereins, u. a. mit einer Schumann-Motette ...] Erste vollständige Aufführung in Wien - steht auf dem Programm. Der Verein wird letzthin wohl die Erfahrung gemacht haben, daß der Theil manchmal besser ist als das Ganze.     L. Sp." (*).

Der »Guide musical« berichtet, daß die 8. Symphonie bei der Aufführung in Berlin [!] großen Eindruck hinterlassen habe (**).

Artikel [Josef Stolzings? siehe Anmerkung] in der Ostdeutschen Rundschau Nr. 52 auf S. 8:
"                Concert.
     Sonntag den 18. December 1892 beglückten uns die Philharmoniker mit einer mustergiltigen ersten Aufführung der 8. Symphonie von Ant. Bruckner. Nach dem Beispiele der Wagner'schen Concertabhandlung über Beethoven's neunte, hat man dem Programme des IV. philharmonischen Concertes eine übersichtliche Erläuterung des herrlichen Werkes beigegeben. Wenn wir auch eine solche Beigabe gerade nicht für unumgänglich nothwendig halten, so bietet sie doch Demjenigen, der mit einer blos einmaligen Anhörung dieses Werk wenigstens in seinen großen Zügen verstehen soll, eine wesentliche Vorbereitung; besonders dem minder leicht auffassenden Zuhörer wird so wenigstens die Möglichkeit geboten, in das Wesen der Werkes eher eindringen zu können. Und man möge gefälligst nicht etwa nach berühmten Mustern dies mit dem Capitel "Programmmusik" unter einen Hut bringen. Es mangelt uns an Raum, uns in eine nähere Besprechung der einzelnen Sätze einzulassen. Jeder Satz ist eine freie, überwältigende Sprache jener göttlichen Stimmungen, deren Charakteristik mit Worten die beigegebene Erläuterung recht gut getroffen hat. Was Anton Bruckner als Musiker so werth macht, ist seine unbewußte Erkenntnis der wahren Aufgabe der Musik, das ist die unmittelbare Veranschaulichung der urewig gestaltenden, zerstörenden, widerstreitenden Welt=Gefühls=Elemente. Bruckner's C-moll-Symphonie folgt denn voll und ganz dieser glorreichsten künstlerischen Errungenschaft auf dem Gebiete der Musik. Das Werk fand auch gerechte begeisterte Aufnahme." [keine Signatur] (***).

Das Linzer Volksblatt Nr. 295 meldet auf S. 3:
"     St. Florian. (Personalnachricht.) Am 23. Dec. ist der Hoforganist Professor Dr. Anton Bruckner im Stifte angekommen, um in demselben die Weihnachtsferien zu verbringen." (°).


Zitierhinweis:

Franz Scheder, Anton Bruckner Chronologie Datenbank, Eintrag Nr.: 189212255, URL: www.bruckner-online.at/ABCD-189212255
letzte Änderung: Mär 30, 2023, 22:22