zurück 29.12.1892, Donnerstag ID: 189212295

Besprechung der 8. Symphonie durch Theodor Helm (»Musikbriefe«) im Musikalischen Wochenblatt Nr. 1 (XXIV. Jahrgang 1893) auf S. 5 [Fortsetzung am 30.3.1893]:
"                                                Wien.
     Es dürfte wohl in den Annalen der Concertgeschichte sehr selten vorgekommen sein, dass eine neue Symphonie zum ersten Male ohne irgendwelche andere Nummern vor dem Publicum erschien. Bruckner's letzter (achter) Symphonie (C moll, dem Kaiser Franz Joseph gewidmet) war im vierten Philharmonischen Concert zu Wien (18. December) diese Ausnahmsstellung eingeräumt, und zwar wegen der ungewöhnlichen Länge des Werkes. Das ganze Werk beansprucht eine Aufführungsdauer von 1½ Stunde, das Adagio allein (wohl das längste der Musiklitteratur) dauert 26 Minuten. Der ausserordentlichen Raumausdehnung entspricht aber auch ein ausserordentlich reicher musikalischer Gehalt, und ist speciell das Adagio (Desdur), in welchem eine herrliche Gesangsmelodie die andere drängt, drei der kolossalsten Steigerungen vorkommen (nur allerdings stark von Wagner beeinflusst) und der zauberhaft verklingende Schluss den Hörer in ideale Regionen abführt, zu dem Schönsten zu rechnen, was Bruckner schrieb. Demgemäss errang das Werk auch einen völlig durchschlagenden Erfolg, und wurde Bruckner von dem alle Räume des Musikvereinssaales füllenden, andachtsvoll lauschenden Publicum nicht nur wiederholt stürmisch gerufen, sondern er erhielt auch drei mächtige Lorbeerkränze. Wir kommen wohl gelegentlich auf die hochinteressanten Details der durchwegs der modernen Chromatik angehörigen Symphonie noch zurück. Für heute nur soviel, dass sich der erste Satz (ein überaus düsteres Nachtstück) hauptsächlich auf einem scharf gezeichneten, tief vergrämten ersten und einem sanft tröstenden zweiten, und zwar weit übersichtlicher, als man es sonst bei Bruckner gewohnt ist, Thema aufbaut: ergreifend wirkt der hoffnungslos ersterbende, das erste Hauptthema in seine Atome auflösende Schluss. Die bedeutendste Stelle des ersten Satzes ist wohl die Vereinigung der beiden Hauptthemen, Jedes in Vergrösserung und mit furchtbaren Kraft-Dissonanzen: ein gigantischer Ausbruch der Verzweiflung. Es folgt ein besonders warm aufgenommenes Scherzo (Cmoll, mässig bewegt ¾) von prächtigem musikalischen Fluss, in dessen behäbigem, aber eigensinnig festgehaltenem Hauptgedanken, der sich siegreich durch die verschiedensten Tonarten durchkämpft (von einer Art Koboldtreiben der Oberstimmen umspielt) Bruckner das kernfeste Wesen des "Deutschen Michel" zeichnen wollte. Als Zwischensatz dazu erklingt ein träumerisch-weiches, sich dann kräftig erwärmendes Trio (Langsam 2/4, Fmoll – Esdur), das leider bei der Aufführung überhetzt wurde. Den 3. Satz bildet das Adagio. Theils aus kriegerisch-feurigen, theils aus tief religiös-empfundenen Weisen setzt sich das kolossale Finale zusammen, in welchem Bruckner's contrapunctische Kunst in mächtigen Orgelpuncten und anderen Steigerungen ihren Triumph feiert und das ganz zuletzt die drei Hauptthemen der früheren Sätze im hellen Cdur cyklopisch übereinander thürmt. Eine wahrhaft geniale, höchst überraschende Combination! Erwähnt mag noch werden, dass die ganz herrliche Instrumentation (welche auch von Bruckner's Gegnern zugegeben wird) diesmal ausnahmsweise – für das Trio, das Scherzo und das Adagio – auch die Harfe zur Mitwirkung herbeizieht. Die Aufführung unter Hans Richter's Leitung war, vom vergriffenen Tempo des Trio abgesehen, eine hinreissend vollkommene.                          Th. Helm." (*).

(II. (IV.) Interner Abend des Wagner-Vereins im kleinen Musikvereinssaal mit Werken von Hugo Wolf (**), Liszt, Beethoven, Schubert, Wagner und Sweelinck. Mitwirkende: Amalie Materna, Anna Warnegg, Felix Kraus, Cyrill Hynais, Ferdinand Foll (oder/und Ferdinand Löwe?) und der Vereinschor unter Josef Schalk (**a)).
Anschließend Jahresabschlussfeier (u. a. mit humoristischen Beiträgen von Franz Schaumamm (**b).

[Vermutlich von Goldschmidt vorgeschlagener Termin für ein Treffen mit Bruckner und Johann Strauß, den dieser jedoch wegen einer Verabredung bei Ronacher absagen mußte (***)].

In einem Feuilleton Camillo Horns im Deutschen Volksblatt Nr. 1433 auf S. 1ff wird auch Bruckner erwähnt:
»              Aus dem Concertsaale.
     Je höhere Wogen das geräuschvolle Leben der "seligen, fröhlichen" Weihnachtszeit auf Straßen und Plätzen schlägt, desto stiller und einsamer wird es alljährlich in den Concertsälen. [... zuvor ein Überangebot, vom Kammermusikabend bis zum Orchesterkonzert ...] Da wir uns mit Letzterem, welches Bruckner's Riesenmeisterwerk, die achte Symphonie, bot, schon eingehend beschäftigt haben, wenden wir uns sofort dem vierten Quartettabend von Hellmesberger zu.
     [... über dieses und andere Konzerte, zuletzt das des Wiener Männergesangvereins mit einem gemischten Programm (leider auch was die Qualität betrifft)... ausführlich zu den einzelnen Nummern ... u. a. Vorbehalte gegen Engelsberg und die Sängerin Lola Beeth ...]
     [... Appell für qualitätsbewusstere Programmwahl ...] Wer soll die Zuhörer zu immer Höherem, Edlerem emporziehen und ihren Geschmack läutern, wenn es die ersten Körperschaften nicht voll und ganz thun? Diesen kommt die hohe Aufgabe zu und diesen liegt es auch ob, auch der neueren Tondichter öfters zu gedenken, von denen ich unter Anderen hier nur nennen will: Rich. Wagner, Franz Liszt, Anton Bruckner, Peter Cornelius, Edw. Grieg, Robert Franz, Arnold Krug, Felix Mottl.
                                                Camillo Horn.« (°).


Zitierhinweis:

Franz Scheder, Anton Bruckner Chronologie Datenbank, Eintrag Nr.: 189212295, URL: www.bruckner-online.at/ABCD-189212295
letzte Änderung: Apr 09, 2023, 22:22