Das Grazer Tagblatt Nr. 303 berichtet auf S. 2 anekdotisch von einer [angeblichen] Universitätsvorlesung [die aber am 30.10.1893 andern Quellen zufolge ausgefallen sein muss]:
" (Meister Bruckner.) Dr. Anton Bruckner ist seit seiner letzten großen Composition "Helgoland", die in Berliner musikalischen Kreisen gegenwärtig so begeisterte Aufnahme findet, bettlägerig geworden. Er leidet an Atemnoth und nach Aussage seines Arztes, Professor v. Schrötter, an einer Art Wassersucht. Trotzdem konnte es der greise Componist nicht übers Herz bringen, seine Antrittsvorlesung an der Universität zu verschieben. Er erschien dieser Tage, von lebhaften Prosit=Rufen empfangen, im Hörsaale. Sichtlich gerührt dankte er und sagte: "Wenn ich mich unter Ihnen, meine Herren Studenten, sehe, dann ist mir wieder wohl. Erst nach langem Zureden hat Professor Schrötter zu meiner Haushälterin gesagt: "Kathi, heut lassen wir ihn gehen, zu Haus hält er's ja doch nicht aus." Was den Gegenstand unseres Hierseins, die Harmonielehre, anlangt, was gibt es Schöneres als dieses Wort, besonders in unserer Zeit, wo es leider so vielfach an Harmonie fehlt? Ich hoffe, dass ich Sie, falls meine Gesundheit es halbwegs zuläßt, in die Geheimnisse der Tonkunst einführen und vielleicht den einen oder anderen zum Musiker oder wenigstens zum Musikkenner machen werde. Sollte Ihnen mal ein Gedanke kommen, den Sie der Ausführung wert erachten, dann führen Sie ihn aus, selbst wenn er gegen die Regeln der Scholastiker verstoßen sollte. Man sperrt Sie drum nicht ein, man verreißt Sie höchstens, das ist mir auch geschehen und geschieht mir heute noch. Uebrigens was mich betrifft, so ist mir das Componieren jetzt ärztlicherseits verboten. An jene aber, welche vielleicht dereinst als gestrenge Kritiker zu Gerichte sitzen werden, an die stelle ich die Bitte, uns arme Componisten nicht ungerecht zu hart abzuurtheilen. Mir haben die zahllosen bösen Kritiken moralisch nicht geschadet, aber manches junge Talent machen sie kopfscheu, und es sucht infolge dessen anders zu componiren, als es denkt und fühlt. Aber das ist grundfalsch. Sie müssen dem Ausdruck geben, was ein Gott Ihnen eingegeben hat, und nicht dem, was engherzige Gesetze vorschreiben. Was nicht vom Herzen kommt, geht nicht zu Herzen." – Stürmische "Prosit!"=Rufe folgten diesen warmen Worten."
Zitierhinweis:
Franz Scheder, Anton Bruckner Chronologie Datenbank, Eintrag Nr.: 189311025, URL: www.bruckner-online.at/ABCD-189311025letzte Änderung: Aug 26, 2023, 3:03