zurück 28.12.1894, Freitag ID: 189412285

Über die Aufführung des Quintetts und des Chores "Um Mitternacht" [WAB 90] am 19.12.1894 berichten
 
"                          Aus dem Concertsaal.
     Für das Bedürfnis, classische Werke der Kammermusik zu hören, dürfte nun in Wien reichlich vorgesorgt sein, nachdem hier jetzt nicht weniger als sieben Quartettgesellschaften bestehen, die sämmtlich anziehende Einladungen ergehen lassen. [... die Namen ... Besuch aller Konzerte unmöglich: Vision eines Phonographen für Kritiker ... heute muss bei einigen Konzerten das "Hörensagen" genügen ... über die Konzerte Winkler und Tschechisches Quartett (Pianistenbegleitung zu laut!) ...].
     Gleichwohl reichen die Prager Gäste im Vortrage classischer Werke nicht an unser Hellmesberger=Quartett hinan, das in seinem zweiten Kammermusikabend als erste Nummer Bruckner's F-dur=Quintett zu Gehör brachte. Die II. Viola spielte Herr R. Dittrich, selbst ein Schüler Bruckner's, und vor Kurzem erst aus Yokohama zurückgekehrt, wo er die deutsche Kunst sehr erfolgreich mitverbreiten half. Wie immer, erntete auch diesmal das große prächtige Adagio ganz besondere Anerkennung. Seine Wiedergabe befriedigte uns auch zumeist, während die übrigen Sätze wohl noch eingehenderen Studiums bedurft hätten, um jener überaus gelungenen Aufführung, die wir noch unter Mitwirkung Vater Hellmesberger's zu hören, so glücklich waren, zu gleichen. In Beethoven's op. 74 wurde namentlich das Adagio mit edelstem Ausdruck und das Finale voll Virtuosität gespielt. Eine noch festere Führung von Seite des ersten Geigers, ein lebhafteres Heraustreten desselben, würde den Ruhm des mit Recht gefeierten Quartettes vielleicht noch erhöhen. Zwischen Bruckner und Beethoven stand Fischhof mit seiner II. Clavier=Violinsonate in B-moll (Manuscript), deren Clavierpart er selbst in virtuoser Weise ausführte. Unseres Erachtens wäre es gerathener, wenn es sich Herr Fischhof mit dem Ruhm genügen ließe, den ihm die Bereicherung der feineren Salonmusik bescheert.
     [... weitere Konzerte und ein Liederabend ...].
     Vocalconcerte veranstalteten noch der "Wiener Männergesangverein" und die "Wiener Singakademie". Ersterer glänzte wie immer durch seine Leistungen; Kremser versteht es eben, den Verein immer auf gleicher Höhe zu erhalten. Gälte es aber, eines Chores mit besonderem Lobe zu gedenken, so wäre Bruckner's an Schwierigkeiten reiches Lied "Um Mitternacht" zu nennen, in welchem, wie es in der Dichtung selbst heißt, "oft ein wundersamer Klang" wie Orgelton erscholl. Neu waren ein Chor von J. V. von Wöß [... Kremser, Kauders, Lieder mit Frau Lotti Barensfeld (hübsche Toilette erregte Bewunderung) und Klavierstücke mit Frl. Unschuld von Melasfeld ... Singakademie, Philharmonisches Konzert mit "Siegfried-Idyll" ...], das trotz seiner intimen Reize lebhaftestem Beifall begegnete.
                                      Camillo Horn." (*)
 
und Theodor Helm in der Deutschen Zeitung Nr. 8260 auf S. 1f:
"                  Concerte.
     Es gilt heute – um in der österreichischen Amtssprache zu reden – so viel Rückstände an Concertberichten aufzuarbeiten, daß die Leser entschuldigen müssen, wenn wir uns ganz kurz fassen, eine oder die andere Aufführung nur mit irgend einem Schlagwort erledigen. [... Philharmonische Konzerte ...].
    Sehr anziehende Chor=Concerte veranstalteten die Wiener Singakademie und der Wiener Männergesangverein. Während die Singakademie in gut gewählten Beispielen die Blüthezeit des deutschen a capella=Gesanges (16. Jahrhundert) an uns vorüberziehen ließ, berücksichtigte der Männergesangverein diesmal in erster Linie lebende Wiener Tonsetzer. [...].    Lebhaften Anklang fanden ferner ein neuer Chor von Albert Kauders [... Max Josef Beer ...], Bruckner's wundersam stimmungsvoller Chor "Um Mitternacht" und Rubinstein's "Kriegslied" [... über die anderen Nummern ...].
    Uebrigens traf es sich eigens, daß, während der Männergesangverein im großen Musikvereinssaal Bruckner's "Um Mitternacht" vortrug, dicht daneben im kleinen Saal ein anderes, weit bedeutenderes Brucknersches Meisterwerk, das berühmtre F-dur=Quintett, von Hellmesberger und Genossen aufgeführt wurde. Da man nun mit bestem Willen nicht zu gleicher Zeit an zwei Orten sein kann, entschieden wir uns für das Quintett und wurden durch das herrliche Adagio wieder in überirdische Welten versetzt. Vielleicht nie zuvor ist dieser bezaubernde Instrumentalgesang – für den die Herren Hellmesberger die berufensten Interpreten sind und bleiben – tiefer zu Aller Herzen gedrungen und nur ein dunker Schatten fiel auf die göttlichen Lichtstrahlen der Sphärenmusik: die Vorstellung, sich den Schöpfer derselben im einsamen Krankenzimmer, von schwersten physischen Leiden gequält, denken zu müssen! Nicht wie sonst immer bei dem stürmischen, begeisterten Beifall kam diesmal des Meisters Charakterkopf mit dem freudig lächelnden Antlitz zum Vorschein, zum erstenmal seit Jahren mußte Bruckner der Aufführung eines seiner bedeutendsten Werke fernbleiben! Wie dabei seinen Verehrern zu Muthe war, möge sich jeder Gemüthsmensch (leider gibt es nicht viele solche) selbst ausmalen. Wir persönlich fühlten uns, aufrichtig gesagt, außer Stande, unmittelbar nach dem wonne=schmerzlichen Doppeleindruck des Bruckner'schen Quintetts einer neuen Piano=Violin=Sonate des Conservatoriums=Professor R. Fischhof mit der nöthigen Aufmerksamkeit zuzuhören. Ueberdies rief uns die Pflicht auch hinüber zum Männergesangverein. [... über weitere Konzerte ...  Signatur auf S. 3:]     Theodor Helm." (**).
 
Derselbe Autor berichtet auch im Pester Lloyd Nr. 311 auf S. 5f von der Aufführung des Quintetts und informiert über Bruckners Erkrankung und die Arbeit an der 9. Symphonie:
"                    Wiener Musikbrief.
("Hänsel und Gretel." – Ein Versöhnungskuß. – Abschied der Frau Materna. – Aus den Konzertsälen. – Anton Bruckner.)
     Das Ereigniß  der Oper ist die glänzende Aufnahme des Humperdinck'schen Märchenspiels "Hänsel und Geretel". Der größte Erfolg, welcher bei uns einer deutschen Oper nach dem Neßler'schen "Trompeter" (Erstaufführung am 30. Jänner 1886), also seit fast neun Jahren beschieden war. [... höchstes Lob für das Werk ... Materna, nur noch ein Abglanz von 1876, in "Götterdämmerung", weitere Konzerte ...].
     [... Wiener Singakademie, Wiener Männergesangverein (Lob für Eduard Kremser, Max Josef Beer und Albert Kauders) ... auch Rubinstein gefiel sehr ...]  und unseres alten Anton Bruckner ernst feierlicher Chor "Um Mitternacht". Es traf sich eigenthümlich, daß während der Männergesangverein im großen Musikvereinssaale gerade einen Bruckner'schen Chor sang, im anstoßenden kleinen Musikvereinssaale von Hellmesberger und Genossen desselben Komponisten F-dur-Quintett gespielt wurde. Der Konzert=Referent mußte sich demnach für das Anhören des einen oder des anderen Werkes entscheiden und Unterzeichneter wählte das Quintett, dessen Adagio ihm seit jeher ans Herz gewachsen ist und in der diesmaligen, wirklich unübertrefflich schönen Ausführung gewiß auch wieder zu Aller Herzen drang. Ich weiß nicht, ob Bruckner's Streichquintett in Budapest jemals öffentlich gehört worden ist. Wenn nicht, so sollte man wenigstens den herrlichen Instrumentalgesang des Adagios in Ges-dur Ihrem kunstsinnigen Publikum nicht weiter vorenthalten. Es gibt in moderner Kammermusik wohl nur wenige langsame Sätze, welche sich diesem Bruckner'schen an Adel und Wärme der Empfindung, melodischen und Klangreizen, sowie kontrapunktisch meisterlichem Gefüge an die Seite stellen können. Wie lange aber wird man von diesem bewunderungswürdigen Stück noch als von der Schöpfung eines Lebenden reden können? Vielleicht, daß Bruckner's auch physisch riesenhafte Natur noch einmal siegreich aus dem Kampfe mit dem schweren chronischen Leiden hervorgeht, das ihm seit Jahren das Leben verbittert. So hart wie jetzt hat ihm aber besagtes tückisches Leiden (dem einst auch das Meisters persönliches Ideal, Beethoven, erlag) noch nie zugesetzt, begreiflich kann von einer Vollendung seiner neunten Symphonie, in der er das Höchste zu leisten gedachte, nicht die Rede sein.
    Das Adagio der IX. Symphonie wollte Bruckner anfangs "Abschied vom Leben" überschreiben, stand dann aber davon ab: die Töne würden's seinen Freunden schon selber sagen! Nun muß er mitten in der Niederschrift dieses symphonischen Schwanengesanges innehalten und wird vielleicht nie aus dem Orchester heraus erklingen, was er sich auf dem Papier als sein Ergreifendstes vorstellte. Selbstverständlich muß nunmehr auch die dem Meister seitens des hiesigen akademischen Wagner=Vereins zugedachte nachträgliche 70. Geburtsfeier, welche sehr großartig geplant war, vollständig unterbleiben. Fürchtet doch Bruckner's ausgezeichneter Arzt, Professor Schrötter, für den Fall einer größeren, wenn auch freudigen Aufregung seines Patienten den augenblicklichen Eintritt der Katastrophe!
     Und nun seien die Leser von dem einsamen Krankenzimmer eines genialen, noch zu wenig erkannten greisen Tondichters rasch wieder in die Konzertsäle geführt, wo unmittelbar die edle Kammermusik dominirt. [... Rosé, Hellmesberger, Winkler, Filgner [Fitzner gemeint?], böhmisches Streichquartett aus Prag ... kurz über einige Konzert und einen Liederabend ...]
                                        Dr. Theodor Helm." (***).


Zitierhinweis:

Franz Scheder, Anton Bruckner Chronologie Datenbank, Eintrag Nr.: 189412285, URL: www.bruckner-online.at/ABCD-189412285
letzte Änderung: Jun 13, 2023, 17:17