zurück 12.2.1895, Dienstag ID: 189502125

Besprechungen der 3. Symphonie
 
im Grazer Extrablatt Nr. 42:
Was gibt’s Neues in Graz?
[…]
     *** [in Form eines Dreiecks angeordnet] (Das dritte Mitgliederconcert des Steiermärkischen Musikvereins), welches am letzten Sonntage im Stefaniensaale abgehalten wurde, enthielt in seiner Vortragsordnung auch eine Symphonie von Bruckner und zwar die dritte in D-moll. Bruckner nimmt unter den Symphonikern der Gegenwart allerdings einen sehr angesehenen Rang ein. Wie nicht bald bei einem Schöpfer großer Orchesterwerke, befindet sich die Kritik dem Symphoniker Bruckner gegenüber in einer heute noch wenig geklärten Verfassung. Es gibt da solche, welche über die glänzenden Anläufe und Episoden, die sich in diesen Werken vorfinden, in eine förmliche Ehrfurcht verfallen. Sie hören und sehen nichts, als dort und da eine frappante Modulation, hier ein contrapunktisches Hexenstückchen, dort wieder einen genialen Orchestereffect, kurzum sie kommen aus dem Bewundern gar nicht heraus, denn dazu gibt es Anlässe ohne Zahl. Dass man bei einem Kunstwerke jedoch in erster Linie auf den Gesammtausdruck, d. h. auf das sehen muss, was der Schöpfer gewollt und dabei empfunden haben kann, und ob derselbe sich als künstlerischer Beherrscher der benützten Kunstmittel erweist, indem sich die aufgewendeten Mittel wirklich dem gewählten Vorwurfe dienstbar erweisen, das fällt den wenigsten dabei ein. Bruckner ist dabei aber so überreich an Blendwerkzeugen, besitzt eine ungezähmte Phantasie, die alles, was man Vorbild nennen könnte, meilenweit hinter sich gesetzt sehen und lediglich fort und fort frappieren möchte. Man braucht kein Vertheidiger der alten Kunstformen zu sein, noch braucht man sich dieselben als nicht vollkommener entwicklungsfähig vorzustellen, aber das ist sicher, dass nur der wirkliche Beherrscher der Form dieselbe weiterzubilden vermag. Erst muss einer eine Kunstform wirklich auszufüllen verstehen, bis er daran gehen kann, diese Form zu erweitern. Für Bruckner gab es von Haus aus nur eine Einschränkung in gewissen Grenzen. Sein ganzes Wesen ist und bleibt Schrankenlosigkeit. Und da gibt es Leute, die sich förmlich abmühen, nach gewissen Formenmustern einen Zusammenhang in dessen Werke hineinzudeuteln. Bruckner trifft es mitunter zwar ebenfalls sich in eine Form für eine Weile zu finden. Allein er verträgt sich nicht lange oder er bleibt nicht mehr der Bruckner der frappiert. Ganz so wie in den andern von ihm schon gehörten Symphonien ist Bruckner auch derselbe in der diesmal gehörten dritten Symphonie. Neugierig wie wir schon waren, stellten wir eine Selbstprüfung in Betreff unserer Auffassung über Bruckner an, indem wir in der neuesten Auflage des Naumann’schen musikalischen Conversationslexikons den Aufsatz über Bruckner aufsuchten, und siehe da, wir waren mit uns zufrieden. Die Aufführung der Symphonie war ebenso verdienstlich wie jene der Leonore=Ouverture von Beethoven. Herr Degner spielte – wohl weil das Studium Bruckners alle Zeit und Kraft des Vereines erschöpfte – auf der Orgel eine Passacaglia in C-moll von S. Bach und erwies sich dabei als ein sehr tüchtiger Orgelspieler.“ (*),
 
im Grazer Volksblatt Nr. 35 auf S. 7:
"         Drittes Musikvereins=Concert.
     Die Aufführung einer Bruckner'schen Symphonie ist immer ein patriotisches Fest und war es auch gestern. [... unerreicht in der Beethoven-Nachfolge ... Verhältnis zu Beethoven und Richard Wagner ...]; Bruckners Musik ist ebensowenig eine Zukunftsmusik wie die Wagners; beide Meister stehen gleich einsam da, weder als Ergebnis noch als Beginn einer großen Künstlerreihe, sondern einfach als Ereignis, das man nehmen muss, wie es ist, das wohl seine leuchtenden und erwärmenden Strahlen wie nicht minder tiefe Schatten vorauswirft, das man aber nicht ungestraft nachzuahmen vermag. Sie gehören zu jenen Himmelsfackeln Schillers, die man den ewig Blinden nicht leihen darf. [... Sonderstellung ...]
     Kann man denn wohl vom Tramway=Wagen unserer Tages=Kritiker verlangen, dass es das festgefügte Geleise seines gewohnten Urtheils verlassen soll, weil die geflügelten Rosse des Sonnenwagens an ihm vorüberbrausen? – –
     Doch lassen wir das! Bruckners dritte Symphonie hat einen überwältigenden Eindruck gemacht, und Herrn Degner gebürt [sic] für eine durchwegs gute, schwungvolle Wiedergabe seines Orchesters hohes Lob. Die Violinen waren etwas schwach besetzt; auch hätte das Tempo des dritten Satzes einen wärmeren Pulsschlag vertragen.
     [... Beethovens Leonoren-Ouvertüre Nr. 1 (= Nr. 3, 1807 für Prag) , Bachs Orgel-Passacaglia ...]
     Über die Symphonie sei noch bemerkt, dass sie 1873 componiert, Ende der Achtziger=Jahre aber gänzlich umgearbeitet worden ist. Sie trug die Widmung an R. Wagner.                                          -sdl- " [vermutlich: Carl Seydler] (**)
 
und durch Victor Prochaska in der Grazer Morgenpost Nr. 35 [siehe die Anmerkung], signiert "V. P.":
„            Feuilleton.
    Drittes Mitglieder=Concert des steiermärkischen Musikvereins.

     Das vorstehend genannte Concert brachte in seinem Programme die Ouverture Nr. 1 zur Oper „Leonore“ von Beethoven, die Passacaglia für Orgel von J. S. Bach und die 3. Symphonie in D moll [von] A. Bruckner.
     [… über Beethoven und Bach …].
     Die Hauptnummer des Concertes bildete A. Bruckners dritte Symphonie in D moll für großes Orchester. Bruckner (geboren 1824 zu Ansfelden in Nieder=Oesterreich) mußte ein Greis werden, bis die Strahlen seines beginnenden Ruhmes ihm die Stirne umglänzen konnten. Trotz mancher Widersacher kann seine Bedeutung als Symphoniker heute nicht mehr hinweggeleugnet werden, und jeder, der nicht starr und krampfhaft an den alten, gewohnt gewordenen Formen festhält, sondern auch neue, erfolgreich beschrittene Bahnen gelten lässt, und sich bemüht, in den [sic] oft überreichen Modulationsplan zu orientieren, muss mit Bewunderung auf seine symphonischen Werke blicken. Bruckner steht nach einer vieljährigen, traurigen Periode der Verkennung, zwar noch nicht allseits verstanden, aber doch in den weitesten Kreisen geliebt und verehrt, als feste Säule deutscher Tonkunst da. Man ist verblüfft, ja überwältigt von den erhabenen Schönheiten, denen man in seinen Werken begegnet. Die dritte Symphonie ist R. Wagner gewidmet, welcher von seines genialen Wiener Verehrers Schöpferberuf überzeugt war und demselben auch versprach, dereinst alle seine Symphonien in Bayreuth zur Aufführung zu bringen; dazu kam es nicht.
     Die in Rede stehende Symphonie erfuhr ihre Erstaufführung in Wien im Jahre 1876 [sic] in einem Gesellschafts Concerte und erwarb dem Meister neue Freunde. Sie ist wie alle Werke Bruckners, im größten Stile angelegt und es finden sich eine Menge geradezu titanischer musikalischer Gedanken, die nur ein großer Meister erfunden haben konnte, und deren meisterhafte Durchführung zum Staunen herausfordert. Alles ist voll Feuer, Leben und Begeisterung. Ueberall zeigt sich der geistvolle Musiker, der die Zuhörer zu packen weiß und der, obwohl er viel zu sagen hat doch nie Gewöhnliches bringt. Seine Werke leiden nicht an jener musikalischen Blutarmut, wie man sie leider in so vielen modernen Tonschöpfungen findet. Wohl finden sich oft Stellen, die etwas unmotiviert erscheinen, das künstlerische Ebenmaß und Gleichgewicht zu beeinträchtigen drohen und dem Ganzen eine übermäßige Ausdehnung verleihen. Diesbezüglich sei auf einige Stellen des ersten Satzes (Mäßig bewegt) [und] des zweiten Satzes (Adagio quasi Andante) hingewiesen, deren Zusammenhang mit dem übrigen nicht leicht ergründlich wird. Im zweiten Satze macht sich vielfach Wagners Einfluss geltend. Das feurige Scherzo zeigt in seinem ersten Theile Beethoven’sche Physiognomie; voll Reiz ist dessen zweiter Theil. Im Finale findet sich wechselnde Stimmung. Einem energischen Anlauf folgt bald ein serenadenartiger Satz, bald meinen wir, eine pikante Ballmusik zu hören. Mit gewaltiger Steigerung schließt dieser Satz, in dem das Hauptthema des ersten Satzes wiederkehrt, ab. Die Aufführung des nach jeder Hinsicht schwierigen Werkes war überraschend gelungen. Herr Director Degner hat sich durch das Studium desselben ein neues Verdienst erworben. Das mit verhältnismäßig bescheidenen Mitteln arbeitende Musikvereins=Orchester war auch mit Ernst und Eifer bei der Sache und folgte der energischen Führung des Dirigenten mit Verständnis. Von den einzelnen Instrumenten=Gruppen verdienen vernehmlich die ersten Vertreter der Holzharmonie alle Anerkennung. Auch die Trompeter und Posaunisten verdienen alles Lob. Entsprechend waren die beiden ersten Hörner, während das dritte und vierte Horn manches zu wünschen übrig ließen. Die Streicher brachten die wiederholt auftretenden Gesangstellen sehr schön. Die Prim=Violine sollte namentlich bei solchen Werken entschieden stärker besetzt sein. Dass auch dem Publicum die Schönheiten der Symphonie zum vollen Bewusstsein kamen, bezeugte deren warme Aufnahme. Herr Director Degner hatte wiederholt für den gespendeten Beifall zu danken.                  V. P.“ (***).
 
Brief von Bernhard Ziehn an Hugo Kaun, in Chicago geschrieben:
     Dankt für die am 9.2.1895 eingetroffene Sendung. Mit dem Oktett könne er sich "täglich damit beschäftigen mit immer gleichem Genuß, was mir, um von ähnlichen Werken zu sprechen, nur mit Bruckner's Quintett möglich wäre und vielleicht mit den ersten zwei Sätzen des Schubert'schen Octetts." Das Quintett [Kauns] habe er noch nicht so gründlich studiert, freut sich auf ein Treffen (Kaun sei ihm immer als "Mendelssohnianer" geschildert worden). Adresse 157 Eugenie Str. (°).


Zitierhinweis:

Franz Scheder, Anton Bruckner Chronologie Datenbank, Eintrag Nr.: 189502125, URL: www.bruckner-online.at/ABCD-189502125
letzte Änderung: Apr 11, 2024, 20:20