zurück 12.1.1896, Sonntag ID: 189601125

2. Gesellschaftskonzert unter Richard von Perger mit Werken von Rameau/Mottl (Ouvertüre zur Ballettoper »Nais«), Brahms (Zwei Frauenchöre mit Harfen- und Hörnerbegleitung), Herbeck (Tanzmomente) und Bruckner (»Te deum«).
Bruckner hört zum letzten Mal ein eigenes Werk (*).
   Den Chor stellt der Wiener Singverein (*a). Als Solisten wirkten mit: Sofie Chotek, Eugenie Hofmann, Eugen Weiß, Andreas Dippel, Georg Valker (Orgel) und J. M. Grün (Violinsolo) (**).
   Im Publikum sitzen u.a. die Kritiker Theodor Helm und Hanslick.

Kritik Schönaichs über die 4. Symphonie [5.1.1896] in der Neuen musikalischen Presse Nr. 2 auf S. 4f:
"Opern- und Concertberichte.
     Wien.
"Philharmonisches Concert. Lillian Henschel, Ilona Eibenschütz, Florence May.) Das Programm des am vergangenen Sonntag stattgehabten philharmonischen Concertes schien in der Voraussetzung angeordnet, dass jeder Zuhörer einen Drehstuhl im Gehirn mit sich trage. Anders können wir uns die Anforderung nicht erklären von viererlei so schnell wechselnden Standpunkten aus Musik zu hören. Eine Mozartsymphonie aus Arkadien, Strauss "Till Eulenspiegel" aus Cayenne, Mendelssohn's Hebridenouverture in tadelloser Eleganz, wie Bulwers "Pelham" vorüberschreitend und Bruckners Es-dur Symphonie, echter Hermelin unter dem die oberösterreichische Bauernjacke hervorguckt, welche von Knöpfen zusammengehalten wird, die theils aus contrapunktischen Zwanzigern, theils aus echten Diamanten gedreht sind! Wohl bekomm's! Und dazu ½1 Uhr Mittag, der Zenith menschlicher Nüchternheit.
     Unter den jungen Componisten, von denen die meisten von der Wucht der Erscheinung Richard Wagners bereits zerquetscht, eigene Laute nur mehr stammelnd oder gar nicht hervorbringen können, nimmt Richard Strauss eine hervorragende Stelle ein. [... Till Eulenspiegel ("eminent unterhaltend ... genialer Wurf") ...].
     Den Schluss bildete also Bruckner's Es-dur Symphonie. Wir haben unsern Lesern vor Kurzem die ausgezeichnete Analyse dieses Werkes aus der Feder unseres Mitarbeiters Dr. Theodor Helm gebracht und glauben dadurch unsere Hochachtung für den Componisten und dessen Werk genügend erwiesen zu haben. Ich – und damit entkleide ich mich des üblichen Pluralis majestatis, den ich nur widerwillig gebrauche und verzeichne einen persönlichen Eindruck – habe diesmal bei bester Prädisposition für das geniale Product, die volle Befriedigung nicht finden können, welche ein Werk aus einem Guss bietet. Selten war ich so bewegt und ergriffen, wie bei Anhörung der ersten zwei Drittel des ersten Satzes. Warum aber verliess mich dieser Eindruck im letzten Theil, warum verwandelten sich die entzückenden Auen, in denen ich bisher gewandelt, allmälig in Wasser, aus denen da und dort versunkene Schätze aufleuchteten. Im Adagio schien mir ein aus tiefer Brust geholter Gesang von kindischen Stammellauten unterbrochen zu werden. Die augenscheinlich verfehlte Architektur des Satzes, mit ihren mehrfachen excentrischen Höhepunken, macht die Göttlichkeit seiner Längen sehr verdächtig. Der herrliche Schluss vermag diesen unerquicklichen Eindruck nicht wettzumachen. Und nun der letzte Satz: Da liegt das kostbarste Baumaterial in wildem Durcheinander verstreut. Ein ordnender Geist könnte ein herrliches Gebäude daraus errichten. So wie es jetzt geschichtet ist, gleicht er der Wohnung von Cyklopen, nicht der Krönung eines symphonischen Gebäudes. Ich wünsche lebhaft, dass, was ich als Mangel des Werkes empfinde, mit der Zeit als Fehler meiner Aufnahmsfähigkeit erkannt werde.
     Frau Lillian Henschel erschien diessmal mit ihrem Gatten, der die Begleitung am Clavier als eminenter Musiker besorgte. [... über ihren Liederabend und andere Konzerte ...] Die Pianistin Florence May aus London scheint Wien mit Kamerun verwechselt zu haben. Wenn der Kritiker im Bösendorfersaale solche Gefahren läuft, wie die, mit denen das Spiel dieser Dame ihn bedroht, so wird er wohl daran thun, die Praxis der Europäer in der Colonie sich zu eigen zu machen, welche, bevor sie baden einen Schwarzen ins Wasser schicken, um zu erproben ob keine Haifische sie bedrohen. Auch ein Neger würde uns vor den Schrecknissen warnen, welche Miss May durch ihre Vorträge von Beethoven's F-moll-Sonate oder Schuberts C dur-Phantasie hervorrief.          Gustav Schoenaich." (***).


Zitierhinweis:

Franz Scheder, Anton Bruckner Chronologie Datenbank, Eintrag Nr.: 189601125, URL: www.bruckner-online.at/ABCD-189601125
letzte Änderung: Jan 20, 2024, 23:23