(*) Über die Aufführung der 6. Symphonie schreibt Hanslick in der Neuen Freien Presse Nr. 6632 (Morgenblatt) auf S. 1 - 3:
»Feuilleton.
Concerte.
Ed. H. [... 2 Seiten Berichte über mehrere Konzerte ... auf S. 3:]
Die Philharmoniker sind nach der üblichen Faschingspause mit ihrem siebenten [sic] Concert hervorgetreten. Mit Ausnahme von Beethoven's zweiter Leonoren=Ouvertüre hat es uns keinen ungetrübten Genuß bescheert. Als Novität erschienen zwei Symphoniesätze, Adagio und Scherzo, von Anton Bruckner. [... er finde keinen Zugang zu Bruckners Werken ... trotz Mängeln (»Rosalien«) konnte das Adagio durch seine Stimmung für sich einnehmen.] Der groteske Humor des in lauter unerklärlichen Gegensätzen sich müde taumelnden Scherzo fand mich dagegen völlig rathlos. Zum Glück schien dies Anderen nicht zu passiren, denn der Componist wurde unter stürmischen Acclamationen eines Theiles der Hörerschaft unzähligemal gerufen. Bruckner genießt durch seine ehrenhafte, sympathische Persönlichkeit das allgemeine Wohlwollen, durch seine lehramtliche Thätigkeit die Liebe seiner Schüler, endlich durch seine schwärmerische Wagner=Verehrung die kräftigste Unterstützung der „Partei”. Letztere würde indessen in Bruckner's eigenem Interesse handeln, wenn sie ihre Sympathie in weniger brüsken Formen ausdrücken wollte. [... über die Werke Eckerts und Spohrs ...]« (*).
(**) Max Kalbeck in der Wiener Allgemeinen Zeitung Nr. 1063 auf S. 1f:
»Feuilleton.
Fasten=Concerte.
Einen neuen Erfahrungsbeweis für die Lehre Arthur Schopenhauer's, daß der Schmerz etwas Positives, die Freude dagegen, welche nur in dem Aufhören des Schmerzes bestehe, etwas durchaus Negatives sei, hat uns der Fasching geliefert. [... sarkastische Bemerkungen zu einem Klavierabend von Pauline Berthensohn-Woronetz mit einem miserablen Orchester und zu harter, grimmiger Klaviertechnik ...] doch das sind am Ende interessante Capricen,die man einer liebenswürdigen Dame nicht übel nimmt.
Ernster könnte man mit den Philharmonikern wegen ihres letzten Concertprogramms rechten, das eine ganze Last von ungleichwerthiger Musik enthielt. Zwei Theile eines neuen Bruckner'schen Werkes, eine vollständig wieder ausgegrabene Symphonie von Spohr und obendrein ein Eckert'sches Violoncell=Concert - zu viel des Problematischen stürmt da zusammen auf uns ein. Die Räthsel, welche uns Bruckner in dem Adagio und Scherzo seiner sechsten Symphonie aufgibt, sind dunkel wie ein Abschnitt aus Jacob Böhme's „Mysterium magnum”. Wir wissen, daß die schöpferische Kraft, die in dieser verworrenen Fülle von Harmonien sich offenbaren will, keine unbedeutende ist, und einzelne Lichtblitze, welche, aus dem Chaos emporflammend, die Geburt eines Sternes zu verheißen scheinen, geben Kunde von dem geheimnißvollen Walten eines ursprünglichen Geistes. Aehnliches wie die Zustände dieser Symphonie haben wir oft erlebt bei seltsamen psychophysischen Vorgängen in unserem Innern, sei es während eines leiblichen oder geistigen Rausches, sei es zur Zeit des Einschlafens und Erwachens oder unter außerordentlichen Verhältnissen, in welchen durch ein unvorhergesehenes Ereigniß froher oder trauriger Art unser Bewußtsein auf Augenblicke gebunden und gelähmt wurde. Wir können uns daher ungefähr vorstellen, wie es im Gemüthe eines Menschen aussieht, welcher die Vorbedingungen des künstlerischen Schaffens mit diesem selbst, den Taumel der Begeisterung mit der Energie der Darstellung, das subjective Wollen mit dem objectiven Können verwechselt. Hiezu neigt Anton Bruckner in bedenklicher Weise; ein Jacob Böhme der Musik, bedient er sich einer eigenen, aus Tiefsinn und Verkehrtheit zusammengesetzten Terminologie des musikalischen Mysticismus. Wie Böhme beliebige Mineralien mit menschlichen Empfindungen und göttlichen Persönlichkeiten identificirt, so erhalten bei Bruckner beliebige Accordfolgen und Tonreihen eine Bedeutung, die ihnen von Natur nicht innewohnt. Wollte er consequent sein, so müßte er Programme zu seinen Symphonien herausgeben, um sich noch in einer anderen Sprache seinen Zuhörern klar zu machen. Der Gott der Töne gibt ihm selten zu sagen, was er denkt und fühlt, sondern vielmehr, wie er denken und fühlen würde, wenn er das Unaussprechliche zu sagen vermöchte. Im Traum ist, wie bekannt, Jeder ein kleiner Shakespeare; vom Dichter aber verlangen wir, daß er dies auch im Wachen bethätige. Bruckner wäre zu einem der Ersten berufen, hätte er neben seiner Einbildungskraft und seinem Schaffenstriebe auch das Vermögen des Vergegenwärtigens; seiner Phantasie fehlt die Logik, seiner Inspiration das innere Gesetz, nach welchem, unberührt vom Zwange äußerer Formen, der Proceß künstlerischer Gestaltung sich vollzieht. Sein Adagio in F-dur klingt wie ein Traum, den irgend ein Meister, meinetwegen der „Meister” selbst, von dem Schlußduett im „Siegfried” und den „Meistersingern” gehabt hat; es isr reich an vortrefflichen Gedanken, eigenthümlichen Wendungen, Feinheiten der Harmonisirung und Instrumentirung, und wir begreifen, daß man sich in dasselbe, wenn nicht hineinleben, so doch verlieren kann. Zu dem Scherzo in A-moll ein näheres Verhältniß zu gewinnen, ist uns nicht gelungen; die Tongespenster, welche darin umhertreiben, machen es gar zu toll: als hätten Wolfsschlucht und Walpurgisnacht sich ein Rendez=vous gegeben, so stampft und tobt, brüllt und wiehert Alles wild durch einander. Die Zukunft, welche ein solches zerrissenes, aus hundert Klüften widerhallendes Tonstück zu genießen vermag, wünschen wir uns fern; aber auch in dem stillen Gärtchen, welches Spohr's C-moll-Symphonie umfriedet, wollen wir nicht mehr ausruhen. [... über Spohrs Symphonie und Eckerts Konzert ...] Die traurige Wahrnehmung, daß vorzügliche Mittel an ein zweifelhaftes Unternehmen gesetzt wurden, drückte dem sechsten Philharmonischen Concert, das mit Beethoven's zweiter Leonoren=Ouverture so herrlich begonnen hatte, den charakteristischen Stempel auf; die über jedes Lob erhabenen Leistungen Jahn's und des von ihm geleiteten Orchesters standen in keinem Verhältnisse zu den Gegenständen, an welchen die Kräfte der Mitwirkenden geübt wurden. [... über Gustav Walters Konzert ...] Max Kalbeck.« (**).
(***) Konstitutionelle Vorstadt-Zeitung (Österreichische Volkszeitung) Nr. 42 auf S. 3:
»Konzert. Unser Ruf nach Novitäten in den philharmonischen Konzerten ist nicht ungehört verhallt. Das sechste Konzert brachte vorgestern zwei Sätze einer neuen (der sechsten) Symphonie von Anton Bruckner, unserem Meister des Kontrapunktes. Es ist schwere Musik, welche die volle Aufmerksamkeit des Hörers in Anspruch nimmt, aber gedankenreich, überaus kunstvoll durchgeführt und warm empfunden. Die Themen des Adagio sind von imponirender Breite, zumal der Seitensatz wirkt mit seiner Steigerung außerordentlich. Dabei ist das Adagio weit entfernt von jenem Grübeln, über dem man so häufig in neueren Symphonien zu keiner Musik kommt. Es ist im Gegentheil für den aufmerksamen Hörer beim ersten Hören in der Form ganz zu durchschauen. Interessant ist das Scherzo. Ist es eine absichtliche Huldigung an den von Bruckner hochverehrten Bayreuther Meister, oder hat Wagner Bruckner gerade bei Komposition dieser Symphonie nicht aus dem Kopfe wollen - das Scherzo ist eine symphonische Phantasie über die „Nibelungen” geworden. Wir finden in ihm gerade die markantesten Motive der Tetralogie, die, mit Meisterschaft verarbeitet, ein originelles Ganzes geben. Besonders sei der ganz eigenartigen, meisterhaften Instrumentation der beiden Sätze gedacht, welche den Wunsch nach der Aufführung des ganzen Werkes rege machten. - [... über die anderen Werke ...] Direktor Jahn leitete alle diese Nummern mit Meisterschaft.« [keine Signatur] (***).
(°) Die Presse Nr. 42 auf S. 11 (signiert »h.« [vermutlich L. B. Hahn]):
»(Concerte.) Seit die Pforten der Tanzsäle sich geschlossen haben, stehen die der Concertsäle wieder angelweit offen. [... über Gustav Walters Konzert ...] Die Philharmoniker begannen mit Beethoven's „Leonoren”=Ouverture Nr. 2 und schlossen mit Spohr's fünfter Symphonie in C-moll. Dazwischen lagen das von Herrn Hummer hübsch und mit gutem Geschmacke vorgetragene Cello=Concert von Eckert und zwei Sätze (Adagio und Scherzo) aus einer Symphonie (Nr. 6) von Bruckner. Beide schwelgen in Erinnerungen an Richard Wagner, in dessen verschiedenen, vorzugsweise aber jüngeren Stylarten und wenden den „symphonischen Styl” der Bayreuther „Fest=”, „Weihfest=” und „Bühnenweih=Festspiele” leider nun auch auf die Symphonie selbst an. Im Ganzen hat der wilde Componist etwas an Zucht gewonnen, aber an Natur verloren. Beim Adagio hielten Interesse und Befremden einander im Publicum noch die Waage und es ging, wenn auch zögernd, mit. Bei dem ausschließlich durch Seltsamkeiten fesselnden Scherzo trennte sich aber - wie ein Sportsman [sic] sagen würde - das Roß von seinem Reiter. Eine kleine Claque schien sichs in den Kopf gesetzt zu haben, die Legitimirung auch dieses Satzes in revolutionärem Wege zu erzwingen; vergebene Mühe. Wir kommen auf beide Abende und einige andere demnächst [am 2.3.1883] des Genaueren zurück h.« (°).
(°°) Speidel im Fremdenblatt Nr. 42 auf S. 6:
»(Sechstes philharmonisches Konzert.) Man kann es als ein Ereigniß bezeichnen, daß die Philharmoniker in ihrem jüngsten Konzert eine Symphonie von Spohr brachten. [... ausführlich über Spohr ...] - Neben das Aeltere stellte sich kühn das Neuere und Neueste, eine Symphonie von Anton Bruckner, allerdings nicht die ganze, sondern nur zwei ausgewählte Sätze, ein Adagio und ein Scherzo. Das Adagio, ein breiter Satz in F-dur, nimmt alle Vortheile der allerneuesten Musikentwicklung für sich in Anspruch und steht bis an die Zähne mit Blech gepanzert da. Es beginnt mit einem sehnsüchtig leidenschaftlichen Thema, das mit den interessant laufenden Bässen in schneidende Gegenbewegung gesetzt ist; über den Streichern, die dieses ausführen, schwebt ein von den Oboen getragener rasch bewegter Kontrapunkt. Man hat sofort den Eindruck einer ungewöhnlichen Fülle und wird von dem melodisch kühnen, rhythmisch gespannten und spannenden Hauptgedanken energisch gepackt. Ein zweites Thema, das zuerst in E-dur erklingt - man sieht, daß auch hier gerutscht wird [wie zuvor bei Spohr besprochen] - hat in der wiederkehrenden Achtelfigur leider Aehnlichkeit mit dem wiegenden Hauptthema von Richard Wagner's „Siegfried=Idyll”. Im Uebrigen entwickelt der Komponist eine überall durchquellende thematische Kraft und eine Macht der Steigerung, die hinreißend wirken kann, freilich auch alle Mittel des Orchesters erschöpft. Es schlagen geniale Elemente durch, allerdings auch trübe Elemente. Das Scherzo hält den Vergleich mit diesem Satze nicht aus; es ist, als ob der Komponist zuletzt den logischen Faden aus der Komposition herausgezogen hätte. Als ein seltsamer, etwas leerer Eigensinn muß es erscheinen, daß ein Dreiklang durch fast ein Dutzend Takte durchgehalten ist. Bei Beethoven sind dergleichen Schlüsse das Austoben einer überschüssigen Kraft. Das Adagio fand lebhaften Beifall, wogegen bei dem Scherzo die Meinung des Publikums getheilt war. [... über die anderen Programmnummern ... Signatur:] sp.« (°°).
(°°°) Besprechung in der Morgenausgabe der »Tribüne« Nr. 42 auf S. 2:
»Concerte
Feuilleton von August Seelig [...] kamen zwei Sätze aus der sechsten Symphonie von Bruckner in A-dur, Adagio und Scherzo. Wäre gegen das Herausreißen einzelner Sätze aus symphonischen Werken nicht energisch genug Protest zu erheben, den Bruckner'schen Bruchstücken gegenüber finden wir den Modus begreiflich. Sie sind alles Andere, nur keine Symphoniesätze, und erwächst ihnen aus der Einzelvorführung sicherlich kein Nachtheil. Das Adagio ist dramatisch gedacht, voll schöner, erhabener Gedanken, aber unverständlich in seinem Verlauf und von ermüdender Länge. Das Scherzo zeichnet sich mehr durch Formensinn aus, sein musikalischer Inhalt macht auf's erste Hören keinen besonderen Eindruck. Der Componist, dessen gediegenes Wissen allenthalben mit Recht hoch geschätzt wird, erfreut sich namentlich bei der akademischen Jugend einer überschwenglichen Verehrung. Dieser wurde von einigen mit starken Lungen begabten Jünglingen so lauter Ausdruck gegeben, daß die Opposition der ruhiger denkenden Männer heraufbeschworen wurde. [...]« (°°°).
(Populäres Gesellschaftskonzert unter Gericke mit Werken von Volkmann, Brahms, Schumann, Beethoven, Paganini, Herbeck, Spohr, Goldmark, Schubert, Kirchner und Mendelssohn (#)).
Richard Wagner in Venedig gestorben. Kalendernotiz Bruckners: »R. W. +« (##).
Zitierhinweis:
Franz Scheder, Anton Bruckner Chronologie Datenbank, Eintrag Nr.: 188302135, URL: www.bruckner-online.at/ABCD-188302135letzte Änderung: Feb 18, 2025, 0:00