"Die Presse" Nr. 172 berichtet auf S. 10 von der Exhumierung Beethovens (die Rubrik ist datiert "21. Juni"):
"[Die Exhumirung Ludwig van Beethoven's.] Es gibt keine Vergangenheit mehr. Heute, im Jahre 1888, werden schwarzgeränderte Karten versendet, die einladen, dem Leichenbegängnisse Ludwig van Beethoven's beizuwohnen. Das Vorspiel zu dieser ergreifenden Feierlichkeit spielte sich heute Nachmittags um 4 Uhr auf dem Währinger Friedhofe in wenig solenner Weise ab. Es waren wol viele Functionäre und Schaulustige erschienen, man sah allenthalben schwarze Handschuhe und es wurde sogar auch irgendwo ein Protocoll geführt, aber es war eine nüchterne, gleichgiltig=officielle Stimmung in dieser Versammlung von Herren, die sich da auf dem engen Seitenwege des Kirchhofes drängten. Die Wiener Kunstwelt war sehr spärlich vertreten. Von den Größen derselben hatte sich nur Anton Bruckner eingefunden. Die Zeit Beethoven's hatte zwei Vertreter hergesendet: Dr. v. Breuning, einen Sohn des bekannten Herrn v. Breuning, in dessen Hause sich ein gutes Stück von Beethoven's Lebensgeschichte abgespielt hat, und einen Enkel des nicht minder bekannten Neffen Beethoven's, einen goldbebrillten, schwarzhaarigen Herrn, der mit einem Cylinder mit breitem schwarzem Flor im Publicum stand. [... Graböffnung, Wortgefechte wegen des Vorgehens, Zustand der Leiche, Schädel erstaunlich klein ...] Eine neugierige Hand streckt sich nach dem Schädel aus, um eine jener Schalen zu erfassen, die dereinst eine Welt voll Größe, Klang und Sturm enthalten haben. - "Nein, ich bitte, angerührt darf hier nichts werden," wehrte Jemand ab. - Der Deckel wird wieder aufgesetzt. [... Metallsarg, Resultat der Schädelmessungen (in Millimeter-Angaben) ...] Hierauf wurden noch weitere Beobachtungen am Gaumen, Kiefer und an der Schädelbasis gemacht. Die Untersuchung währte zwanzig Minuten." (*).
Das Mährische Tagblatt Nr. 143 übernimmt auf S. 6 den gestrigen Bericht der Wiener Allgemeinen Zeitung: "(Exhumirung der Leiche Beethoven's.) Gestern um 4 Uhr Nachmittags fand auf dem Währinger Ortsfriedhofe zu Wien die Exhumirung der Leiche Ludwig van Beethoven's statt. Anwesend waren Vice=Bürgermeister Dr. Prix, Magistrats=Director Bittmann, Magistratsrath Lekisch, Archivar Weiß, Gemeinderath Vaugoin, Obmann der Friedhofs=Commission, Gemeinderäthe Goldschmidt und Stiaßny, Dr. Löffler in Vertretung des Stadtphysicates, ferner vom Directionsrathe der Gesellschaft der Musikfreunde Dr. v. Bräunig, Professor Bruckner, Capellmeister Alphons Czibulka, Componist Koch v. Langentreu, Sanitätsrath Dr. Witlacil leitete den feierlichen Act. Alle Anwesenden nahmen rings um das Grab Aufstellung und nun schritten die Arbeiter zur Oeffnung der Gruft. Nach kurzer Zeit war der Sarg, der ziemlich gut erhalten ist, bloßgelegt und hierauf geöffnet. Nach Constatirung der Identität wurde der Holzsarg in einen prächtigen Metallsarg, welcher die Buchstaben "L. B." zeigt, gelegt, worauf der Sarg wieder geschlossen wurde. Auf dem Sargdeckel befindet sich folgende Inschrift:
"Ludwig van Beethoven,
geb. 16. December 1770,
gest. 26. März 1827."
Der Sarg wurde sodann in die mit Blumen geschmückte Friedhofs=Capelle gebracht, woselbst derselbe bis heute Nachmittags 2 Uhr verblieb, und von dort auf den Central=Friedhof zur Beisetzung gebracht wurde." (**).Im Bericht der Neuen Freien Presse Nr. 8558 auf S. 4 werden weitere Anwesende genannt:
"Die Exhumirung Beethoven's.
Wien, 21. Juni.
Heute Nachmittags um 4 Uhr [... anwesend u.a.: Landesgerichtsrath Lorenz, Dr. Raindl, "Hof=Organist Bruckner", Leschetitzky und Gattin Annette Essipoff, Präsidial-Sekretär Dr. Keitler, Bezirkshauptmann Habicher, Polizeirath Richter, von der Anthropologischen Gesellschaft Professor Meynert, Professor Toldt und Dr. Weißbach, Beethovens Großurneffe Dr. Hermann Weidinger. Das Sarginnere war so wie im Jahr 1863 (Beschreibung) ...] Die Vertreter der Anthropologischen Gesellschaft ersuchten aber nun, Messungen an dem Schädel vornehmen zu dürfen. Die Gesellschaft hatte sich schon an den Bürgermeister Uhl gewendet, ihr die Ueberreste Beethoven's zum Zwecke von Messungen in ihr Laboratorium übertragen zu lassen, doch hatte der Bürgermeister dieses Ersuchen entschieden abgelehnt. Die Vertreter der Gesellschaft stellten dann die Bitte, nur einige Messungen unter commissioneller Beaufsichtigung vornehmen zu dürfen, und diese Bitte wurde in der Voraussetzung und unter der Bedingung, daß die dem großen Todten gebührende Pietät in keiner Weise verletzt werde, ertheilt. Auf diese mündlich ertheilte Erlaubniß des Bürgermeisters gestützt, verlangten nun die Vertreter der Gesellschaft, sofort diese Messungen vornehmen zu dürfen. Der anwesende Bezirkshauptmann Habicher sowol als Sanitätsrath Wislocil erklärten, sich diesfalls an den Willen des Bürgermeisters halten zu müssen. Es entspann sich am offenen Sarge eine Debatte, in welcher der Vertreter des Bürgermeisters, Gemeinderath Vaugoin, erklärte, in keiner Weise eine Verletzung der Pietät zu gestatten und eine Messung nur dann zuzulassen, wenn die Knochenreste vollkommen unangetastet bleiben werden. Würde der Commissions=Leiter dies gestatten, so lehne er für seinen Theil jede Verantwortung ab. Selbstverständlich erklärten die Anthropologen, daß gewissenhafte Messungen ohne eine nähere Berührung nicht möglich seien, und daß auch die Pietät durch einen Act wissenschaftlicher Forschung nicht beeinträchtigt werden könne. Eine lebhafte Erregung hatte sich aller Anwesenden bemächtigt, und nach längerer Discussion verlangte Herr Koch v. Langentreu, daß die Debatte wenigstens nicht auf dem Friedhofe und vor dem offenen Sarge fortgesetzt werde und daß man den Sarg in die Capelle übertrage, wo ja auch die obwaltenden Meinungsverschiedenheiten ausgeglichen werden könnten. [...] In der Capelle wurde nun nach längerer Debatte und mit Einwilligung der Vertreter der Familie den Mitgliedern der Anthropologischen Gesellschaft gestattet, "einige wenige" Messungen vorzunehmen. Die Messungen an dem Schädel nahmen nun aber so viel Zeit in Anspruch, daß die Vertreter der Behörden im Hinweise darauf, daß eine derartige Messung nicht gestattet worden sei und daß dieselbe wenig mit der dem Todten schuldigen Pietät übereinstimme (?), den Schluß derselben verlangten. [... nach dem Einschreiten von Lekisch und Habicher] wurden die Messungen eingestellt. Die Schädelknochen wurden hierauf wieder in den Sarg gelegt, welcher sodann verlöthet und versiegelt wurde. Die Zeugen des Actes aber nahmen die Erinnerung an einen interessanten, jedoch leider der Würde entbehrenden Act mit. [... eine Vorbesprechung hätte sein sollen ... Messresultate von Prof. Toldt ... Beschreibung des Schädels ... Unterkieferzähne fast komplett vorhanden ... Schäden infolge der früheren Entnahme der Ohrorgane ... Details von der Exhumierung 1863 ... Sarg wurde dann polizeilich bewacht bis zum nächsten Nachmittag ... geplanter Weg des Trauerzuges zum Zentralfriedhof morgen Freitag ...] Vor der Wiederbestattung wird Hofschauspieler Lewinsky eine vom Hofrath Joseph Ritter v. Weilen verfaßte Rede halten." (***).
Fast noch ausführlicher berichtet das Neue Wiener Tagblatt Nr. 172 auf S. 3:
"Die Exhumirung Beethoven's.
Der erste Akt hat sich gestern Nachmittags vollzogen und die Szenerie desselben war wahrlich poetisch genug. [... ausführliche Schilderung der Sargöffnung, der Debatte um die Messungen, Messresultate, Sargschließung ...]
[... Anwesende...] die Komponisten Professor Bruckner, Kapellmeister Alfons Czibulka, das Mitglied des Hofopernorchesters Kreuzinger, mehrere Musikschriftsteller und Vertreter der Wiener, der englischen und amerikanischen Journale. Die Familie Beethoven's war durch einen Urenkel seines Bruders Karl, den Jur. Dr. Hermann Weidinger vertreten." (°).
Der Bericht der Wiener Allgemeinen Zeitung Nr. 2989 auf S. 5 ähnelt passagenweise dem des Neuen Wiener Tagblatts:
"Die Exhumirung Beethoven's
Wien, 21. Juni.
Ludwig van Beethoven's sterbliche Ueberreste sind, wie wir im Sechsuhr=Abendblatte kurz berichtet, heute der mit einem einfachen Obelisken gezierten Gruft auf dem Währinger Ortsfriedhofe entnommen worden [... Anwesende Dr. Toldt, Dr. Meynert u.a.], die Componisten Professor Bruckner, Capellmeister Alfons Czibulka, Mitglied des Hofopern=Orchesters Kreuzinger, mehrere Musikschriftsteller und Vertreter der Wiener, der englischen und amerikanischen Journale. Die Familie Beethoven's war durch einen Urenkel seines Bruders Karl, den Jur. Dr. Hermann Weidinger vertreten. [... Messungen, Sargverschluss, Bewachung des Sarges...]" (°°).
[vermutlich 22.6.1888] Aufführung des "Germanenzugs" durch den Deutschen Männergesangverein in Prag unter F. Heßler oder F. Mohaupt im Garten des Deutschen Hauses. Solisten sind die Vereinsmitglieder Tersch, Wiedemann, Sperk und Koreff. Es spielt die Kapelle des 102. Infanterieregiments unter der Leitung von Kapellmeisters Bobek (°°°).
Zitierhinweis:
Franz Scheder, Anton Bruckner Chronologie Datenbank, Eintrag Nr.: 188806225, URL: www.bruckner-online.at/ABCD-188806225letzte Änderung: Dez 17, 2024, 12:12