zurück 23.4.1893, Sonntag ID: 189304235

Artikel Speidels zur f-moll-Messe [am 23.3.1893] im Fremdenblatt auf S. 5, signiert »L. Sp.«:
"     Theater und Kunst.
                   Konzerte.
 
   Das bedeutendste Ereigniß in der zweiten Hälfte der ablaufenden Saison ist die Aufführung von Anton Bruckner’s großer Messe in F-moll gewesen. Die Entstehung dieses Werkes geht in die Jahre 1867 bis 1868, also noch in die Linzer Zeit des Komponisten zurück. Der Organist von St. Florian hat es geschrieben. Bruckner ist in der Kirche emporgekommen, und wie er auch in seinen Symphonien über sie hinausgewachsen ist, etwas von ihr, und wäre es auch nur ein leiser Weihrauchgeruch, ist an ihm hängen geblieben. Der Sohn der Kirche und der Schüler des konservativsten Musikers ist der freieste und unbändigste Tonsetzer geworden. Gegen ihn ist Liszt zahm gewesen, und mit ihm verglichen gehört Wagner zu den Zurückgebliebenen. Nur in der Kirchenmusik fühlt er noch gewisse Schranken, die alte Mutter hält ihn mit ihren Armen zurück. In der F-moll-Messe ist Bruckner’s persönlicher Freiheitsdrang, wenn er auch manchmal überzuschäumen droht, mit den Forderungen der Kirche in ein zwar stets schwankendes, aber doch immer zum Mittelpunkt zurückkehrendes Gleichgewicht gesetzt. Es ist ein freies Werk, das doch wieder im Innersten gebunden ist. Bruckner schließt sich dem Meßtexte mit Innigkeit, man möchte sagen mit dem tiefsten Glauben an. Die Freiheit, die er sich nimmt, ist nur die, in seiner eigensten Weise zu glauben, dass heißt als phantasievoller Mensch, als Künstler zu glauben. Er legt das Dogma künstlerisch aus, und zwar als moderner Künstler, der nicht den Alten nachbetet, wenn er auch ihre überlieferten Formen, allerdings mit dem Vorbehalt, sie nach seiner Art umzubilden, wieder aufnimmt. So geht ein kanonischer, ein imitatorischer Zug durch die ganze Messe, der aber von den freisten Formen, wie sie der neueren Zeit angemessen sind, unterbrochen wird. Das Orchester spielt nicht blos die Rolle des Verstärkers und Begleiters der Singstimmen, es hat vielmehr Eigenes und Eigenthümliches zu sagen, das der menschlichen Stimme auszudrücken versagt ist. Gleich der erste Satz ist ein mächtig aufgeführtes musikalisches Gebäude. Es ist wesentlich aus den beiden Motiven Kyrie eleison und Christe eleison gebildet, die einander charakteristisch gegenüberstehen und sich in einem erweiterten  und vertieften Motive schwungvoll vereinigen. Die innige Bitte um Erbarmen, die sich an den Vater wendet, wird dem Sohne gegenüber dringender – man beachte nur den fast fordernden Oktavenruf, der durch die verschiedenen Stimmen geht; dann entspinnt sich ein wahres Kampfgebet, wie es einst Jakob, als er mit dem Engel rang, gebetet hat: Ich lasse Dich nicht, Du segnest mich denn! Dies steht zwar nicht in dem Meßtexte, aber es kann aus ihm herausgelesen werden, und das ist es, was wir vorhin die künstlerische Auslegung genannt haben. Neben vielen anderen Schönheiten im Gloria muthet uns namentlich das herrliche Stimmengewebe an, in das das Schlußwort Amen eingefangen ist. Im Credo ist das Moment des Glaubens mit besonderer Zuversichtlichkeit betont, und in der Schilderung der Passion und des jüngsten Gerichts feiert die Erfindungskraft des Komponisten ihre schönsten Triumphe. Hier erreicht die Messe ihren Höhepunkt, aber man geht abwärts, wie von dem Gipfel eines Berges, durch Wälder und über grüne Wiesen. Manche meinen wohl, die Bruckner’sche Messe sei zu gedehnt; ja gedehnt, sagen wir, wie ein Adler, der seine Schwingen ausspreitet  .  .  .   Die Aufführung der Messe hat Josef Schalk gut dirigirt, und das Orchester von Eduard Strauß, das mitwirkte, zeigte sich der nicht leichten Aufgaber bestens gewachsen.
     Der große Geiger Cäsar Thomson, [… über dessen Konzert und andere …].       L. Sp.“ (*).

In der Steyrer Zeitung Nr. 33 wird auf S. 3 nochmals auf die Ernennung zum Ehrenmitglied des Steyrer Musikvereins [18.4.1893] hingewiesen:
"        Localnachrichten.
[...]
     Gesellschaft der Musikfreunde in Steyr. Betreffs der am 18. ds. im "Hotel Schiff" abgehaltenen Generalversammlung haben wir bereits erwähnt, daß in derselben einstimmig Herr Eduard Werndl zum Vorstande erwählt und Herr Professor Dr. Anton Bruckner in Wien zum Ehrenmitgliede ernannt wurde. Dem bisherigen Vorstande Herrn Julius Reschauer [... erwähnt werden noch: Kapellmeister Ludwig Großauer, Schriftführer Hermann Bachtrog, Kassenwart Josef Hoschek, die Archivare Anton Haidl und Franz Prammer, Franz Bayer (Kapellmeister-Stellvertreter) und die Vertrauensmänner Victor Stigler und Josef Reichl ...]." (**).


Zitierhinweis:

Franz Scheder, Anton Bruckner Chronologie Datenbank, Eintrag Nr.: 189304235, URL: www.bruckner-online.at/ABCD-189304235
letzte Änderung: Feb 25, 2024, 16:16