zurück 20.10.1893, Freitag ID: 189310205

Bericht über die Berliner Aufführung der 3. Symphonie [am 16.10.1893] in der Linzer Zeitung auf S. 1278f:
„           Linzer und Kronlands=Nachrichten.
                                          
Linz, 19. October.
[…]
     * (A. Bruckners Symphonie in D-moll.) In Berlin fand am Dienstag in der Philharmonie das erste der großen Abonnements=Concerte statt, welches der Generaldirector Levi aus München dirigierte. Es wurde u. a. die große, Richard Wagner gewidmete Symphonie in D-moll von A. Bruckner aus Wien aufgeführt. Ueber dieses Werk schreibt der Musikreferent der „Post“: „Die Bruckner’sche Symphonie zeugt von ungewohnter Productionskraft hinsichtlich der Erfindung wie von dem Bestreben, im Aufbau der Sätze eigene Wege zu wandeln. Wenn wir für einen Symphoniesatz das Postulat stellen müssen, daß er von einem kernhaften Grundgedanken logisch entwickelt werde, daß, was auch sonst an musikalischen Motiven verwertet wird, mit dem Grundgedanken contrastiere aber zu ihm in Beziehung träte und dann das Gebilde eines Bruckner’schen Satzes daraufhin untersuchen, so könnte er kaum der gestellten Anforderung entsprechen. Kernig sind die meisten seiner Motive, ganz prägnant gestaltet, sowohl rhythmisch wie melodisch reizvoll, aber sie werden von ihrem Schöpfer zu wenig motivisch verarbeitet, die Sätze machen mehr den Eindruck einer Phantasie als den eines fest gefügten Aufbaues. Ein reicher Geist, der von dem Kunstschaffen Wagners und Beethovens beherrscht wird, spricht aus dieser D-moll-Symphonie, auf die allerdings die neunte Beethovens von gewaltigem Einfluß gewesen ist. Manche Perioden, wie die Coda des ersten Satzes, wo auf der beharrlich wiederkehrenden chromatischen Baßfigur ein gewaltig angelegtes Crescendo sich ausbreitet, deutet ganz evidant auf die correspondierende Stelle im Ausgang der ersten Satzes im Beethoven’schen Werk. Das charakteristische Schwirren der leeren Quinten spielt bei Bruckner ebenfalls eine große Rolle. Im Adagio finden wir melodische Themen von wundervoller tiefer Innigkeit der Empfindung, müssen aber bedauern, daß sie nur zu episodenhaft auftreten, daß der Satz nicht von diesen Motiven beherrscht wird. Das am leichtesten sich einprägende Stück ist das Scherzo mit seiner prickelnden Bewegung, seinem humoristischen Grundton und der am knappsten abgerundeten Formengebung. Das Orchester ist durchaus modern, mit dem vollen Glanz und dem Farbenreichthum behandelt, wie wir es durch Beethoven, Wagner, Berlioz und Liszt überkommen haben; ein schwerer, fast heiliger Ernst beherrscht den ganzen Inhalt des Werkes, nur hie und da leuchtet uns Humor entgegen. Herr Levi hat, was möglich war, gethan, diese nicht leicht verständliche Musik den Hörern klarzulegen; dem großen Publicum hinterließ sie kaum einen tiefgehenden Eindruck, die Musiker haben sie mit gespanntem Interesse gehört.“ “ [die hypothetische Signatur des Originalartikels ist nicht angegeben] (*).

Brief von Hermann Wolff an Maximilian Harden:
   »Sehr geehrter Herr.
    Mit großem Interesse werde ich den Artikel über Bruckner lesen.
    Ich habe schon oft die Idee gehabt, über das Musik- und Concertwesen einmal nöthige Aufklärungen zu geben, Vorurtheile zu beseitigen & Wahrheit & Klarheit zu schaffen. Bülow hat mich oft dazu animirt, denn er pflegte Stunde[n]lang in meinem Beureau [sic] zu sitzen, dem Getriebe zuzuschauen, Einblicke in den Mechanismus zu nehmen.
    Aber mir fehlt Zeit, Ruhe, & Geduld. Vielleicht finden Sie den Geeigneten. Nothwendig ist’s. Ich stelle gern Alles Material zur Verfügung, gebe jede nötige Aufklärung & gewähre dem von Ihnen designirten Schriftsteller gern Einsicht in Alles. Hätten Sie Zeit, Sie wären der rechte Mann wir fänden auch Gelegenheit, uns öfter darüber auszusprechen.
    Die Bedeutung eines solchen Artikels wäre zweifellos sehr groß. Die Nothwendigkeit erscheint mir geradezu dringend. 
    Vielleicht finden Sie bald einmal Zeit mir ein Wort zu antworten.
    Ergebenst Hermann Wolff [Umblättervermerk, vermutlich am oder nach dem 21.10.1893 geschrieben:] W. S. G. U.
    Ich habe eben den Artikel über Bruckner gelesen. Sans phrase er ist gut u. richtig. Dr. H. S. kennt die Partituren Bruckners wirklich genau. Was er speciell über den Kontrapunktiker Bruckner sagt, ist treffend; Sch hat sich eben nicht blenden lassen, wie die Meisten, denen eine Scheingelehrsamkeit imponirt. Ich kann Ihnen hier nicht auseinandersetzen, wie famos in dem Artikel das Wesen Br’scher Musik erkannt ist & nur der, welcher weiß, wie unendlich schwer es ist, dies Wesen mit Worten zu characterisiren, kann voll beurtheilen, wie Dr. Sch den Kern getroffen hat.
Besten Dank.
Ihr H. W.«
[Handwritten annotation from Harden to Schenker:]
»Könnten Sie nicht einmal über [„]Dirigenten“ schreiben, Bülow, Richter, Levi u.s.w. ?? Vielleicht interessirt Sies!
Besten Gruß. Ihr erg. H.« (**).

Das Mährische Tagblatt Nr. 240 bringt auf S. 3 - 5 die Fortsetzung des gestrigen Artikels über die 8. Symphonie [Aufführung am 22.10.1893]:
"Bruckner's Achte Symphonie." (Ein Vorwort zum Nächsten Concerte des Olmützer Musikvereines. (Schluß.) Camillo Horn äußert sich im "D. V." folgendermaßen: Bruckner ist in erster Linie Symphoniker. Hierfür sprechen [... ab hier der vollständige Text der Kritik im Deutschen Volksblatt vom 20.12.1892 ...] die Größe und Breite seiner Gedanken [... an Grabbe gemahnend ... anderthalb Stunden ungestört für ein einziges Werk ...] und so genoßen wir ein wirklich stilvolles Concert.
     Ueber die vorzügliche Aufführung und begeisterte Aufnahme, die vielleicht hinterher von mancher Seite bemängelt werden mag, haben wir schon an anderer Stelle gesprochen. Wir können aber dem Drange nicht widerstehen, den Leser an der Hand der bei Haslinger (Lienau) in Wien erschienenen Orchester=Partitur auf einzelne große Schönheiten des Werkes zu verweisen, soweit uns hier der Raum vergönnt wird.
     Gleich der Beginn des ersten Satzes bringt eine Ueberraschung, [... Beschreibung des Satzverlaufes ... die Geigen] verlieren sich imitatorisch in räthselhafter Ferne, zugleich einen der seltsamsten Schlüsse des genialen Meisters bildend.
     [... kurz zu Scherzo und Trio (mit Harfe) und Adagio (das 2. Thema der Celli erinnere an die "Götterdämmerung") ... ]
     Daß auch in diesem Satze Anton Bruckner zeigt, was er vermag, ist selbstverständlich. Alle früheren Sätze aber werden durch das Finale, den eigentlichen Stolz des Meisters, darin geschlagen. Hier läßt der Tondichter, wie er sich dem Referenten gegenüber einmal äußerte, "die Avantgarde vorrücken", alle Minen seiner contrapunktischen Künste springen und bringt, wie Richard Wagner in seinem großartigen Vorspiele zu den "Meistersingern", ebenfalls drei Hauptthemen (das des ersten, zweiten und dritten Satzes) zu gleicher Zeit zur Verwendung. Was höchste Kunst zu leisten im Stande ist, ist hier vollbracht; dennoch steht unserem Herzen bis jetzt der erste Satz am nächsten, besonders, da ihn fließende Einheitlichkeit auszeichnet. Für die Ausführung seiner großen Gedanken bedient sich Bruckner eines ebenbürtigen, des großen Wagner'schen Orchesters mit seiner dreitheiligen Instrumentation.
     Diesmal wird Meister Bruckner gewiß zu der für ihn und seine treuen Anhänger freudigen Erkenntniß gelangt sein, daß sein edles, geistvolles Schaffen in Wien aufrichtige Anerkennung gefunden hat. Möchte nun auch an zahlreichen anderen Orten der "deutsche Michel" erwachen!
     Heute aber schon freuen wir uns auf die Vollendung seiner nächsten, der neunten Symphonie." (***).


Zitierhinweis:

Franz Scheder, Anton Bruckner Chronologie Datenbank, Eintrag Nr.: 189310205, URL: www.bruckner-online.at/ABCD-189310205
letzte Änderung: Nov 06, 2023, 14:14