zurück 20.6.1872, Donnerstag ID: 187206205

Unsignierte Kritik [Speidels?] über die f-moll-Messe im »Fremdenblatt« Nr. 168 auf S. 6:
»     – Letzten Sonntag ist in der Augustinerkirche die große Messe in F von Anton Pruckner, dem Wiener Hoforganisten und Professor am Konservatorium, aufgeführt worden. Der Komponist dirigirte sein Werk, das so lange eine papierene Existenz geführt hatte. Die Messe Pruckner's ist eine Komposition, die von der Erfindungskraft und dem ungewöhnlichen Können des Komponisten das rühmlichste Zeugniß ablegt. Mit poetischem Verständniß hat er sich in die vom Meßtexte geschaffenene Situationen vertieft und seine enorme kontrapunktische Kunst macht es ihm leicht, die schwierigsten Probleme spielend zu lösen. Uebrigens konnte der treffliche Tonkünstler dem Reize nicht widerstehen, dem Texte bis in die kleinsten Details zu folgen, ein Verfahren, das ihn (wie z. B. im Credo) allzusehr in die Breite führt und das die Gesammtstimmung des Satzes bedroht. Sodann läßt er sich von dem dramatischen Gehalte des Textes verführen, hin und wieder an das Theatralische zu streifen, wie gerade wieder im Credo, wo man sich einmal mitten in einer christlichen Wolfsschlucht zu befinden meint. Im Ganzen aber ist Pruckner's Messe ein Werk, das für das Wissen und Können des Komponisten großen Respekt einflößt.« (*).

Artikel Eduard Kulkes [nicht: Eduard Kremsers] im »Vaterland« Nr. 167 auf S. 1 mit einem Nekrolog über Ignaz Dorn (**) und anschließend der Besprechung der f-Moll-Messe (***):
      »Musik.
(Ein Opfer der Zukunftsmusik. - Bruckner's Messe bei den Augustinern.)
Ed. K. Vor wenigen Tagen ist in Wien ein junger Mann zu Grabe getragen worden, der ward im buchstäblichen Sinne ein Opfer seiner Begeisterung für Richard Wagner. Der junge Mann war ein Musiker und hieß Ignaz Dorn. [... über drei Spalten Text über Dorn, über das Kennenlernen, über seine Kompositionsbegabung. Am Samstag [15.6.1872] habe er, [Kulke], erfahren, daß Dorn vorige Woche beerdigt worden sei. Erwähnt die unglückliche Begegnung mit Wagner ...] Friede seiner Asche. Ich werde seiner nie vergessen.
   Meine verehrten Leser werden mir nach dieser Elegie über einen theuren Freund einige Worte des Trostes und der Erhebung gestatten. Solche Erhebung verschaffte mir die neue Messe in F von Professor Bruckner, welche verflossenen Sonnntag, 11 Uhr, in der Augustinerkirche aufgeführt wurde.
   Professor Anton Bruckner ist einer der talentvollsten und zugleich bescheidensten Menschen, die mir auf meinem Lebenswege begegnet sind. Als Orgelspieler steht er seit des berühmten Hesse's Tod wohl ohne Gleichen da. Bekanntlich wurde er sowohl nach Frankreich als nach England zu Orgel=Congressen delegirt und errang da, wie dort bedeutende Erfolge. Leider findet dieser hervorragende Künstler im eigenen Vaterlande weniger Anerkennung als in der Fremde; obwohl Bruckner weit davon entfernt [ist], nach Auszeichnungen zu streben, oder gar um solche zu buhlen, so muß es ihn doch kränken, sich in der Heimat weniger geschätzt zu sehen, als in fremden Ländern. Deshalb ist es mir angenehm, auf sein Talent bei einer Gelegenheit hinweisen zu können, wo es sich in so ganz eminenter Weise kundgegeben, wie dies letzten Sonntag bei den Augustinern der Fall war. Ich kann über die dort gehörte Messe in F nach einmaligem Hören freilich kein erschöpfendes Urtheil abgeben, allein das wage ich zu behaupten, daß jeder feiner fühlende Geist sich von dem Werke ergriffen fühlen wird. Es ist darin keine Spur von Schablone. Man spürt es schon bei den ersten Klängen des "Kyrie", daß man es hier mit einem eigenthümlichen Geiste zu thun hat, und was die Hauptsache ist, bei aller scheinbaren Verstandesarbeit der reich angewendeten Figuration blickt aus dieser Musik ein warmes Gemüth heraus. Die Melodiebildung ist zwar derart, daß sie dem Sänger manche Schwierigkeit in der Intonation bereitet, aber wer ein Sänger sein will, soll eben singen und intoniren können. Es sollte mich freuen, dem Werke bald wieder in einer Kirche zu begegnen; auch kann ich nicht verschweigen, daß sich Franz Liszt über das Werk in sehr günstiger Weise ausgesprochen.« (**) / (***).

Die Linzer Tages-Post Nr. 139 berichtet auf S. 3 ebenfalls von der Aufführung der f-Moll-Messe:
     » § Professor Bruckner, der glückliche Gewinner der goldenen Medaille der vorjährigen Orgelkonzerte in London, der ausgezeichnete Kontrapunktist und Improvisator, hatte sich bisher mit Orchester=Kompositionen größeren Styles nicht an die Oeffentlichkeit gewagt. Am 17. d. [sic - in der Vorlage »vorgestern«] nun, schreibt die "Morgenpost" [19.6.1872, identische Textpassagen], war die Augustinerkirche der Schauplatz seines ersten Wagnisses auch nach dieser Richtung. Er brachte seine D-moll Messe [sic] - das Werk mehrerer Jahre - vor einem dichtgedrängten Publikum unter seiner eigenen Leitung, mit einem vorzüglichen Orchester, auf die Bretter - der Kirche. [... über Bruckners Talent und stilistische Ähnlichkeiten mit Bach, Beethoven und Wagner...] Er erschöpft sein Thema wie ein tiefer Denker. Soli, Chor und Orchester greifen mit Glanz in einander. Die Aufführung war eine imposante.« (°).

Die Linzer Zeitung greift in ihrer Meldung auf den Text der »Presse« [18.6.1872] zurück: 
     » Linz, 19. Juni.
   [...] * (Professor Bruckner.) In der "Presse" lesen wir: Der Professor Bruckner, der sich in Paris und London als Orgelvirtuose einen rühmlichen Namen erworben hat, führte am 16. d. in der Augustiner=Kirche zu Wien eine große Messe von seiner Composition auf. [... bizarre Effecte ... tiefer Eindruck ... Compositionstalent ... das Gelingen verdankt sich zum Teil] Herrn Hellmesberger, der bekanntlich dem künstlerischen Streben heimischer Talente mit Rath und That stets auf das Liebenswürdigste entgegen zu kommen pflegt.« (°°).

Im Salzburger Volksblatt Nr. 74 berichtet ein mit "n." [= Heinrich Wallmann??] signierter Artikel von der Aufführung der f-Moll-Messe am 16.6.1872:
          "Korrespondenzen.
     n. Wien. (Orig.=Korr.) In der am 2. Juni abgehaltenen Monatszusammenkunft der Salzburger Gesellschaft in Wien wurde zuerst die Monatschronik vorgelesen, dann das Andenken an den um Salzburg hochverdienten Stiftsprobst Dr. Halter in einem warmen Nachrufe geehrt [... erwähnt werden Dr. Kaserer, Prinzinger, Babitsch, ein Aufsatz in der Alpenvereinszeitschrift ...] Endlich brachte der berühmte Orgelspieler und Professor am Wiener Konservatorium, Hr. Brukner, ein Oberösterreicher, welcher durch seine Orgelkonzerte in Paris und London ungewöhnlichen Erfolg und Beifall erntete, am 16. Juni l. J. die von ihm komponirte F=Messe in der Augustinerkirche zu Wien nach vielen Mühen und Geldopfern unter seiner persönlichen Leitung zur Aufführung, an welcher sich hervorragende Gesangs= und Musikkräfte betheiligten; die Kirche war voll von Zuhörern; denn Brukners Name hat in Wien einen guten Klang. [...] Was Wagner für die große Oper ist, das ist Brukner für die Kirchenmusik. [... Vorbehalte gegen einige Teile der Messe, Credo großartig und meisterhaft ...] Die Aufführung selbst ließ namentlich unter den Violinspielern und im Chore manche Lücken wahrnehmen, aber ist im allgemeinen als gelungen zu betrachten, jedoch dauerte sie 100 Minuten (das ist etwas zu lang) und [ist] überhaupt nur - bei Verfügung von tüchtigen und vielen Gesang= und Musikkräften möglich. Dem Kompositeur wünschen wir Glück zu seinem neuen Werke, aber möchten ihm den Rath geben, mehr Ruhe und Zusammenhang in seine Gedanken zu bringen, dadurch werden dann die Gedanken gehörig ausgearbeitet und den Zuhörern verständlicher, seine Werke werden von der Gegenwart verstanden und gewürdigt und auch für die Zukunft dauernden Werth finden." [siehe die Anmerkung] (°°°).


Zitierhinweis:

Franz Scheder, Anton Bruckner Chronologie Datenbank, Eintrag Nr.: 187206205, URL: www.bruckner-online.at/ABCD-187206205
letzte Änderung: Feb 02, 2023, 11:11