zurück 17.12.1891, Donnerstag ID: 189112175

Besprechung der 1. Symphonie durch Theodor Helm in der Deutschen Zeitung Nr. 7171 (Morgenausgabe) auf S. 1f:
          "Bruckner's erste Symphonie.
Wenn man zu der jüngst von unseren Philharmonikern zum erstenmal aufgeführten C-moll=Symphonie Bruckner's die rechte Stellung finden will, muß man vor allem die Entstehungszeit des Werkes scharf ins Auge fassen. Es ist - wie wir dies schon im Montag=Abendblatte meldeten, aber vielleicht nicht von allen Lesern zur Kenntniß genommen wurde - 1865 bis 1866 in Linz componirt: der erste Versuch oder vielmehr die erste kühne That des Tondichters auf einem Gebiete, welches er von da an als sein wahres künstlerisches Heim erkannte. [... über Bruckners Werdegang, "Germanenzug" für Sängerfest 1862 [sic], d-Moll-Messe 1864 (erst kürzlich verlegt, durch Vermittlung eines "liebenswürdigen Vorarlberger Kunstfreundes" [Hämmerle]) ... das erste absolute Werk nach strengen Studien und Kirchenwerken ... "Schulstaub abschütteln" ... "ein echtes Sturm= und Drang=Werk" ...] Was Wunder, wenn gerade in dieser [Symphonie] - um ein treffendes Wort aus Dr. Schaumann's Festrede beim Commers zu gebrauchen - seine Phantasie fessellos einherstürmte, jede Schranke verachtend oder auch sie durchbrechend?! Daß wir in dieser C-moll=Symphonie den ursprünglichen Bruckner vor uns haben, [...] macht das Werk - biographisch genommen - zu dem vieleicht bedeutendsten, jedenfalls interessantesten Denkmal der Genialität seines Schöpfers. [... künstlerisch sind aber die späteren Werke vorzuziehen ... Bruckners Sträuben zur Veröffentlichung ist begreiflich; nach Löwes Vorspiel mußte Hans Richter "die Erlaubniß dazu vom Componisten förmlich erzwingen" ... bei der Umarbeitung wurde vor allem uminstrumentiert, der letzte Satz aber (leider) nicht gekürzt, was aber zu empfehlen wäre ... baldiges Erscheinen von Partitur und Klavierauszug erwünscht, auch eine Wiederaufführung beim Wagner-Verein, da dort nur Interessierte kommen ...]; man befindet sich da in einer Art Klein=Bayreuth für Bruckner.
     Zur Symphonie zurückkehrend, finden wir, daß dieselbe mit den späteren derartigen Werken des Meisters die überreiche Erfindung und besonders den höchst glücklichen Anfang theilt [... Beschreibung des 1. Satzes ... kunstvollste polyphone Kombinationen, oft mehrere sprechende Stimmen gleichzeitig ...]; aber den inneren Zusammenhang all' dieser interessanten Gebilde, das große Ganze zu überschauen vermöchte man nur bei sehr oftem Hören, unterstützt durch eigene Wiedergabe aus dem vierhändigen Clavierauszug: wie sehnen wir letzteren herbei!
     Der zweite Satz (As-dur 4/4) hat uns beim erstenmal Hören den tiefsten Eindruck gemacht. [... Beschreibung des Satzes ... der Schluss gehört zum Ergreifendsten der Instrumentalmusik ... im Mittelteil blieb einiges dunkel ...], der Gesammteindruck namentlich des überirdischen Schlusses war doch: ein tieferes, bedeutenderes Adagio ist seit Beethoven nicht geschrieben worden. Der 14. April 1866, an welchem, wie die handschriftliche Partitur verräth, dieser Theil der Symphonie von Bruckner vollendet wurde, sollte mit goldenen Lettern dereinst in seine Biographie und ins Buch der Kunstgeschichte eingetragen werden. Auf die liebe Erde zurück führt uns der dritte Satz, ein prächtiges Scherzo (G-moll, mit Trio G-dur), welches auffallend an jenes der voriges Jahr gehörten D-moll-Symphonie erinnert. [...] Ein Bild von dem verwirrend kolossalen Finale zu geben, [...] verzichten wir [... Notenbeispiele erforderlich ... Trillerfigur erinnere an Beethovens cis-Moll-Quartett ... kaum Wagner-Einflüsse, diese erst nach der "Tristan"-Aufführung denkbar ...] So läßt sich, wo überhaupt von einer Aehnlichkeit mit Wagner die Rede ist, diese nur aus einer allerdings mitunter höchst merkwürdigen Geistesverwandtschaft erklären.
     Schließlich müssen wir sowohl Herrn Hofcapellmeister Hans Richter, als den Philharmonikern unseren wärmsten Dank und unsere bewundernde Anerkennung ausdrücken für die außerordentliche Mühe, welche sie sich um die vielleicht schwierigste symphonische Partitur der Welt gegeben. [... "von Probe zu Probe mit gesteigertem Interesse" ... die Stimmführer hätten (zu Helm) von einer "genialen Schöpfung" gesprochen ... zur Einführung beim Publikum wäre die 2. Symphonie geeigneter gewesen ... empfiehlt die 4. Symphonie für die nächste Saison ...] Nachdem aber kaum ein anderes Werk des vaterländischen Tondichters geeigneter erscheint, für seine kühne Muse Proselyten zu machen, sollte die "Romantische Symphonie" dem Stammpublicum der Philharmoniker nicht länger vorenthalten bleiben.
                    Theodor Helm." (*)

Von dieser Aufführung berichten auch der Alpen-Bote Nr. 100 auf S. 4 (den Artikel der Deutschen Zeitung vom 14.12.1891 verwendend):
     "(Ein Erfolg unseres Landsmannes Dr. Bruckner.)
Die "Deutsche Zeitung" schreibt: In dem gestrigen (13. ds.) philharmonischen Concerte (in Wien) errang Bruckners erste Symphonie (C-moll; 1865 - 1866 geschaffen, neuerdings etwas umgearbeitet) bei ihrer überhaupt ersten wirklichen Aufführung (denn die mit gänzlich unzureichenden Mitteln 1868 in Linz versuchte konnte nur als Probe gelten) einen vollkommen durchschlagenden Erfolg. Nach jedem Satze wurde Bruckner stürmisch gerufen, nach dem ideal schön verklingenen Adagio (As-dur) erhielt er auch einen mächtigen Lorbeerkranz. Es ist dieser glänzende, völlig unbestrittene Erfolg umso höher anzuschlagen, als das staunenswert polyphone Werk zwar zu seines Schöpfers interessantesten, kühnsten und großartigsten gehört, aber auch unbedingt die schwerst verständliche, verwickeltste, in einzelnem seltsamste Musik enthält, die von Bruckner je in Wien gehört wurde. . . . . Vor 10 bis 15 Jahren wäre eine derartig die höchste Aufmerksamkeit und Geduld der Hörer in Anspruch nehmende "Neuheit" von dem philharmonischen Publicum ohneweiters abgelehnt worden; heute hat sich der "junge Doctor Bruckner" so in allgemeines Ansehen gesetzt, dass niemand einen Widerspruch wagt, sondern, wo er auch nichts versteht, die ungegriffene Größe ahnend, mit verhaltenem Athem zuhorcht." (**)

und das Musikalische Wochenblatt Nr. 51 auf S. 663:
"     * Anton Bruckner's 1865/66 componirte, neuerdings etwas umgearbeitete Cmoll-Symphonie gelangte am 13. Dec. in Wien, im 3. Philharmonischen Concert, zur ersten Aufführung und wurde mit stürmischem Beifall aufgenommen." (***).

Auf S. 664 wird eine neue Publikation vorgestellt:
               "Kritischer Anhang.
Allgemeiner deutscher Musiker-Kalender für 1892.
         Redigirt von Bernard Wolff. Berlin, Raabe & Plotow.
     In der 1. Abtheilung, dem Notiz- und Nachschlagebuch, gleicht der neueste Jahrgang dieses so praktisch eingerichteten Kalenders bis auf ein paar Zusätze in der Aufzählung der Geburts- und Sterbetage berühmter Musiker (zu welchen vorläufig E. d'Albert, A. Bruckner, F. Draeseke, Edv. Grieg und einige Andere noch nicht zu gehören scheinen) ganz seinen beiden Vorgängern. [... Signatur:]               M. Ed." (°).

Datierungen "17.12.91" in Abschriften der Sopran- und Altstimme des "Pange lingua" (WAB 31) in der restaurierten Fassung vom 19.4.1891 [Aufführung am 26.12.1891] (°°).

(Aufführung von Brahms' Klarinettentrio im kleinen Musikvereinssaal (°°°)).


Zitierhinweis:

Franz Scheder, Anton Bruckner Chronologie Datenbank, Eintrag Nr.: 189112175, URL: www.bruckner-online.at/ABCD-189112175
letzte Änderung: Nov 27, 2023, 9:09