zurück 28.3.1893, Kardienstag ID: 189303285

Besprechung der f-moll-Messe durch Theodor Helm in der Deutschen Zeitung Nr. 7632 auf S. 1f:
"            Bruckner's F-moll-Messe.
    Auf zwei Gebieten musikalischer Kunst überragt unser Bruckner durch die hinreißende Gewalt seiner Tonsprache alle lebenden Mitstrebenden: auf dem Gebiete der Symphonie und jenem der katholischen Kirchencomposition. Während nun aber über den Symphoniker Bruckner die Meinungen noch vielfach auseinandergehen, da gerade hier der Unvorbereitete dem hohen Gedankenfluge des Meisters nicht immer zu folgen vermag, manchen schon die überaus kühne Erweiterung und Umgestaltung der Form verwirrt, herrscht über seine kirchlichen Werke, in welchen das heilige Wort und der Ritus der gerne in ungemessene Räume dringenden überreichen Phantasie des Tondichters gewisse Schranken setzen und dadurch auch dem Hörer festen Anhalt gewähren, Alles klar zu überblicken, wohl nur eine Stimme der Bewunderung. Welche Begeisterung hat nicht nur bei uns, in dem kunstfrohen, leicht entzündlichen Wien, sondern auch in dem skeptisch kühlen Berlin, ja in dem vor lauter Geschäftsgeist noch nüchterner gewordenen Nordamerika (Musikfest in Cincinnati!) Bruckner's "Tedeum" erregt! [...]
    Da auch der Dirigent der Gesellschaftsconcerte Herr Gericke der sensationellen Aufführung beiwohnte und die Wirkung der F-Moll=Messe im Concertsaale erproben konnte, dürfte er vielleicht die hochmögenden Herren vom Musikverein veranlassen, in der nächsten Saison an Bruckner eine Ehrenschuld abzuzahlen, die eigentlich schon längst fällig gewesen. [... Besprechung der einzelnen Sätze (nach zweimaligen Hören, ohne Partitur) ... Vergleich zu Beethovens Missa solemnis ... eigens erwähnt wird die Amen-Fuge des Gloria ... das Credo] gehört wohl zu dem Bedeutendsten, was die Kirchenmusik des Jahrhunderts aufzuweisen hat. [... Lob für das von Duesberg gespielte Violinsolo ...über das Resurrexit ...] Eine Stelle, von deren hinreißender, schier zauberhafter Wirkung die Feder keine Vorstellung zu geben vermag. Jedenfalls ist nie in Tönen großartiger, dramatisch packender das Wunder der Auferstehung geschildert worden.
     [... zwischen Gloria und Credo das "Locus iste" als Einlage (bereits am 8.11.1888 beim Wagner-Verein aufgeführt) ... Sanctus und Benedictus] wurden neulich durch ein wunderseliges Zwischenspiel der Orgel auseinandergehalten, zu welchem der Vortragende, Meister Labor, der sich bei dieser Gelegenheit selbst übertraf, die Motive sinnigst Bruckner's Messe selbst entnommen hatte. [... über das Agnus dei ... Empfindung, dass nur] ein intimstes Herzensbedürfniß diese Musik schreiben konnte. Und so ist es auch: Bruckner hat uns in seiner F-Moll=Messe nicht nur ein außerordentliches Kunstwerk, sondern auch ein ergreifendes Stück seiner eigenen Lebensgeschichte gegeben.
     Haben wir es doch aus dem Munde des Meisters selbst, daß, bevor er diese Messe schrieb – [... über die Krise 1867/68 und die Befreiung durch die Komposition der Messe ... über das Benedictus-Zitat im Adagio der 2. Symphonie ...] Braucht es eines weiteren Beweises, daß unser Bruckner stets nur als ein wahrer Tondichter, aus innerstem Bedürfniß und unwiderstehlichem Drang componire?
                             Theodor Helm." (*).

Auf Seite 6 kommt ein [nahezu wörtlicher] Wiederabdruck des Artikels vom 29.6.1872:
"     – Ein Wunsch, den die Neue Freie Presse bereits am 29. Juni 1872 geäußert, hat durch die Aufführung der Bruckner'schen Messe in F-moll endlich seine Erfüllung gefunden. In der Nummer des erwähnten Tages brachte das Blatt folgende Notiz [diese als wörtliches Zitat etwas eingerückt]:
      [Bruckner's neue Messe.] Am verflossenen Sonntag kam in der Augustinerkirche eine hier noch nicht gehörte neue Messe in F-dur (Sic! – soll richtig heißen F-moll) von dem als Orgelvirtuosen rühmlichst bekannten k. k. Hoforganisten und Professor am Conservatorium Anton Bruckner zur Aufführung. Die Composition erregte unter den Musikfreunden Aufsehen durch ihre kunstvolle Contrapunktik und Fugenarbeit, wie durch einzelne ergreifende eigenthümliche Schönheiten. Nicht nur durch ihre großen Dimensionen und schwierige Ausführbarkeit, auch durch Stil und Auffassung verräth sie als ihr Vorbild die Beethoven'sche "Missa solemnis", nebenbei auch starke Einflüsse R. Wagner's. Es wäre interessant, wenn Bruckner's neue Messe ganz oder doch theilweise in einer guten Concertaufführung zu Gehör gebracht und dadurch einem größeren Publicum bekannt würde."
     Nun findet diese Concertaufführung statt, und ein widriges Geschick verwehrt es dem Musikkritiker der Neuen Freien Presse, derselben beizuwohnen. Von Professor Hanslik, dessen sachlichen Urtheils ein Theil der musikalischen Welt von Wien mit Spannung harrte, war weit und breit nichts zu sehen: er beehrte das künstlerische Ereigniß nicht mit seiner Gegenwart. Vielleicht hielt er eine kritische Würdigung des gigantischen Tonwerkes deßhalb für inopportun, weil er das nicht wiederholen wollte, was vor mehr als zwei Jahrzehnten schon in seinem Blatte gestanden." (*a).
 
Von dem Konzert am 23.3.1893 berichten auch
 
"     (Akademischer Wagnerverein.) Aus Wien den 24. d. M. wird uns geschrieben: In dem bis auf das letzte Plätzchen besetzten großen Musikvereins=Saale fand gestern durch den Akademischen Wagnerverein unter der Leitung des Professors Jos. Schalk die Aufführung von Dr. Anton Bruckners großer Messe in F-moll statt. Den Eindruck, welchen dieses unvergleichliche Werk hervorrief, in Worte zu kleiden, wäre wohl ein Wagnis, wir verzeichnen nur, dass nach dem überwältigend schönen Credo das Publicum von seinen Sitzen sich erhob und durch Tücherschwenken und lauten, jubelnden Zuruf dem Altmeister eine schier nicht endenwollende begeisterte Huldigung darbrachte, die aber Bruckner in seiner bekannten Bescheidenheit von sich ab= und den Künstlern zuzuwenden suchte. Wir wollen diesmal nur die ausgezeichnete, discrete und doch anfeuernde Dirigierung Schalks hervorheben, der den gebürenden [sic] Antheil der Ehren des Abends davontrug, sowie die trefflichen Leistungen Duesbergs (Violinsolo) und der Damen Bertha Widermann (Alt) und Sophie Chotek (Sopran). Kammersänger Walter, der einige Solopartien sang, hat unsere Erwartungen nicht ganz befriedigt und schien gestern nicht vollkommen disponirt zu sein. Der Chor des Wiener Akademischen Wagnervereines, verstärkt durch einen Theil des Akademischen Gesangvereines, bot ersichtlich sein Bestes zur würdigen Aufführung der Messe auf; wir sind ihm hiefür zu warmen [sic] Danke verpflichtet und beglückwünschen ihn zu dieser so ehrenvoll und erfolgreich bestandenen Probe seines künstlerischen Könnens, die dem Wagnerverein hoffentlich ein Sporn sein wird, auf der betretenen Bahn fortzuschreiten und der wahrhaft deutschen Kunst in Wien den ihr schon lange gebürenden Ehrenplatz zu erobern." [keine Signatur] (**)
 
und das Linzer Volksblatt Nr. 71 auf S. 3f (den Text Robert Hirschfelds vom 25.3.1893 übernehmend):
"     – Bruckners F-moll=Messe wurde kürzlich vom Akademischen Wagner=Verein in Wien in vortrefflicher Weise aufgeführt. Ein Wiener Kritiker berichtet darüber: "Die F-moll-Messe ist ein grandioses Werk, echt kirchlich, aus einem frommen, gottergebenen Geiste geschöpft, dem gleichwohl auch die modernen Ausdrucksmittel für heilige Empfindunden dienstbar sind. Kirchlich ist die Messe, weil sie in der Stimmung an den Gemeinsinn der Gläubigen rührt, selbst bei verwickelter Structur die Deutlichkeit des Textes bewahrt und trotz aller Größe und Tiefe der Anlage ein gewisses Maß der Ausdehnung nicht überschreitet. Nach dem ersten Hören wird es schwer, den Gedanken der Messe im Einzelnen würdigend nachzugehen. Die gewaltige Fuge des Gloria sei bemerkt; die Festigkeit und Glaubensstärke in dem Motiv des mächtigen Credo; es ist mit Geist und Kraft erfaßt. Die geheimnisvollen Klänge bei den "sichtbaren und unsichtbaren Dingen"; das Tenorsolo des "Incarnatus est", die Mystik bei "Homo factus est"; das grandiose "Vitam venturi saeculi" mit dem eingefügten Credo=Choral – – damit sind die Schönheiten nicht erschöpft. Das Nachspiel des Orchesters zu den Worten "Qui locutus est" spricht wirklich sanft und eindringlich wie aus dem Munde Erleuchteter zu uns. Das "Benedictus" zähle ich mit seiner innigen, tiefempfundenen Melodik zu den schönsten und ergreifendsten Offenbarungen modernen Kirchengeistes. Diese Musik strömt direct aus dem Gefühl ins Gefühl über. Ein Interludium zu dem Benedictus hat Kammervirtuose Labor auf der Orgel mit der ihm eigenen Vollkunst und Zartheit der Empfindung, die Motive aus der Messe holend, zu tiefinnerlicher Wirkung gebracht. Dem Benedictus gleichwertig war die a capella-Einlage, das Graduale "Locus iste", vom Vereinschor mit Wärme und im Styl gesungen. Aus dem Orchester der Messe spricht die Eigenart des großen Symphonikers, Glanz und Fülle. Aber auch die Eigenheiten Bruckners fehlen nicht, wenn, nach Goethes Wort, "über die ernste Partitur quer Steckenpferdlein reiten". Eine Stimmführung, welche häufig die chormäßigen Grenzen durchbricht, das Abreißen herrlicher Gedanken, die man fortgeführt wünschte, die ausgreifenden Freiheiten, welche Bruckners Art sind, finden wir in der F-moll-Messe wie in seinen anderen großen Chorwerken. Auch die Soli sind, wie Bruckner dies liebt, häufig ohne eigentliche innere Nothwendigkeit nur so in die Messe geworfen" [keine Signatur]" (***).
 
Im »Wiener Musikbrief« in der Allgemeinen Zeitung München Nr. 87, zweites Morgenblatt S. 1f, erwähnt Richard Heuberger auf S. 6 auch die Aufführung des »Tafellieds« [am 11.3.1893].
"                      Wiener Musikbrief.
           
   Von Richard Heuberger.
     * Wenn Rubinstein als Componist reist, so reist er gleichsam incognito. [.. sehr kritisch über "Das verlorene Paradies" ... weitere Konzerte ...].     Auch von ein paar Novitäten kann ich berichten. Der Männergesangverein vermittelte uns die Bekanntschaft eines hübschen Manuscript=Chores von C. Goldmark, der "Akademische" diejenige eines aus dem Jahre 1843 stammenden Chores von A. Bruckner. Das Stück war wohl einst für den Kirchendienst geschrieben worden und den jetzigen Text – er ist "Tafellied" überschrieben – hat wohl ein Spaßvogel dazu gedichtet. Der äußert unbedeutenden Musik steckt der Landschulmeister in allen Gliedern und die "Dichtung" spricht von "Licht in holden Augen", von Herzen, die der Schönheit Strahl "saugen", und von ähnlichen schönen Dingen. Der brave Dorfpädagoge hat den "Bakel" in die Ecke gelehnt, nimmt das Glas, das ihm der Hr. Pfarrer gnädig hinreicht, stößt mit dem "Herrn" an der Tafel an und spricht statt "Prosit" sein gewohnheitsmäßiges "Kyrie eleison". – Bedeutender als die lebenden sind ein paar dahingegangene Meister in der Neuheitsliste vertreten. [... zuletzt über eine sorgfältige Beethoven-Handschrift ... sie] zeigt, daß dieser aus Rücksicht auf einen Freund gelegentlich auch seiner gefürchteten Handschrift, in welcher sich sonst die ganze Unbändigkeit seines Naturells abspiegelte, einigen Zwang auferlegen konnte." (°).
 
Eröffnung der 22. Jahresausstellung im Künstlerhaus durch Kaiser Franz Joseph um 11 Uhr. In der Abteilung Plastik ist auch Victor Tilgner vertreten, und zwar mit den Büsten von Wilhelm Jahn, Anton Bruckner [IKO 55], Gottfried Preyer und Hanns Makart (°°).
Anwesend sind u. a. Erzherzog Karl Ludwig, Großherzog Ferdinand von Toscana, Herzog August Cumberland, Obersthofmeister Fürst Hohenlohe, Oberstkämmerer Graf Trauttmansdorff, die Minister Baron Gautsch und Graf Falkenhayn, Statthalter Graf Kielmannsegg, Graf Neipperg, Fürst Metternich, Sektionschef Wittek, Freiherr v. Chlumecky, Hofrath Werstermayer, Professor v. Trenkwald, Bildhauer Professor Hoffmann [Edmund Hofmann], Professor Benk und Bildhauer Vogl (°°a).
 
(2. Außerordentliches Gesellschaftskonzert unter Gericke mit Bachs h-moll-Messe (°°°)).


Zitierhinweis:

Franz Scheder, Anton Bruckner Chronologie Datenbank, Eintrag Nr.: 189303285, URL: www.bruckner-online.at/ABCD-189303285
letzte Änderung: Jul 24, 2023, 12:12