zurück 10.4.1894, Dienstag ID: 189404105

Brief Franz Schalks an Bruckner:
    Die 5. Symphonie habe eine ungeheure Wirkung hervorgerufen. Die niederschmetternde Gewalt des Finales sei unvorstellbar (*).

Besprechungen der gestrigen Aufführung

durch Julius Schuch im Grazer Tagblatt Nr. 97 auf S. 4 (**)

und Franz Petrich im Abendblatt der Grazer Tagespost Nr. 97:
"               Symphonieconcert.
     Das am gestrigen Tage im Theater am Stadtpark stattgefundene Symphonieconcert des Capellmeisters Herrn F. Schalk und der Orchestermitglieder der vereinigten Grazer Bühnen darf zweifellos zu den bedeutungsvollsten musikalischen Ereignissen der dießjährigen Concertsaison gezählt werden. Berechtigter künstlerischer Ehrgeiz veranlaßte den unermüdlich thätigen und begabten Dirigenten, welcher als Operncapellmeister schon zahlreiche ehrenvolle Erfolge zu verzeichnen hatte, auch als Concertleiter seine Befähigung zu zeigen. Herr Schalk hat bei dieser Veranlassung sich und seinen Musikern Eine der schwierigsten Aufgaben gestellt, indem er den rühmlichen Entschluß faßte, Eines der großartigsten, an die Ausführenden ungewöhnliche Anforderungen stellenden symphonischen Tonwerke seines glühend verehrten Lehrers, des berühmten vaterländischen Componisten Anton Bruckner, an welches sich bis jetzt kein Concertinstitut herangewagt, zur ersten Aufführung zu bringen. Dirigent und Orchester haben mit der glänzenden Lösung der gestellten Aufgabe ein nachahmenswürdiges, nicht genug zu rühmendes Beispiel von Muth, Opferwilligkeit, Fleiß und Ausdauer, sowie von überraschender künstlerischer Befähigung geliefert. Mit der ersten, von außerordentlichem Erfolge begleiteten Aufführung des bewunderungswürdigen symphonischen Riesenwerkes des großen Meisters wird der Name Derjenigen, welche sich um die vorzügliche Wiedergabe desselben verdient gemacht, in steter Erinnerung bleiben. Es bleibt das Verdienst der betheiligten künstlerischen Factoren, einer neuen, epochemachenden symphonischen Schöpfung Meister Bruckner's siegreich Bahn gebrochen zu haben.
     Anton Bruckner, welcher bekanntlich 1824 zu Ansfelden in Oberösterreich geboren wurde, begann seine Laufbahn in mühseliger Weise, als ärmlich besoldeter Schulgehilfe, Meßner und Organist, und wurde kraft seines Genies, und durch Fleiß und rastloses Studium jener große deutsche Meister, als welcher er heute die Achtung und Bewunderung der musikalischen Welt und die Liebe und Verehrung einer stetig wachsenden Zahl begeisterter Anhänger genießt. Auch ihm blieb jedoch nicht das Schicksal erspart, unbeachtet, verkannt und angefeindel zu werden. Erst spät wurde ihm die verdiente Anerkennung zutheil, welche dem theils unverstandenen, theils gefürchteten und unbequemen Genius, von Seite einer einflußreichen und mächtigen Clique versagt wurde. Da der Meister Dank den eifrigen und erfolgreichen Bestrebungen seiner Schüler und Freunde nicht mehr todtzuschweigen und von den Concertinstituten nicht mehr zu ignoriren war, so wurde von Seite seiner kritischen Gegner, welche sich in ihrer gewohnten Ruhe und in ihren Interessen bedroht erachteten, ein erbitterter Kampf gegen den gefährlichen musikalischen Neuerer geführt, der trotz der stets wachsenden zahlreichen Erfolge der Brucknerschen Schöpfungen noch immer nicht gänzlich verstummt ist. Man warf dem Meister vor, die Mehrzahl seiner Werke sei nicht aufführbar. Ein Kritiker schrieb: Bruckner schreibe wie ein „Betrunkener". Ein maßgebender Wiener Kritiker fühlte sich von dieser Musik antipathisch berührt; er findet sie krankhaft, aufgeblasen, von bleierner Langweile, ja – verderblich und fieberhaft überreizt. Ein deutscher Kriliker strenger Observanz nannte die herrliche, überall mit Enthusiasmus aufgenommene siebente Symphonie Bruckner's „einen wüsten Traum eines durch zwanzig „Tristan=Proben überreizten Orchestermusikers". Ueber die nämliche Symphonie schrieb Bernhard Vogel (Leipzig): „Das Werk fordert die höchste Bewunderung heraus – es offenbart eine geradezu jugendfrische Unmittelbarbeit der Empfindung eine echte Congenialität mit Berlioz, Liszt, und vor allem mit Wagner, kraft welcher sich Bruckner wie ein Riese aus der Schaar der den großen Meistern nachplappernden Pygmäen heraushebt." Ueber dasselbe Werk schrieb Th. Helm (Wien): „Ob wohl seit Beethoven eine Symphonie componirt wurde, welche spannender, feierlicher ist, als die siebente von Bruckner? Das Adagio ist vielleicht das größte und erhabendste [sic] seit Beethoven geschriebene Symphonie=Adagio. In diesem Satze reicht ein großer Künstler (Wagner) auf dem Grabe heraus seinem würdigen Jünger und Nachfolger die Hand, und noch ein anderer großer Meister (Beethoven) hat dem im Entstehen begriffenen Tonbild aus himmlischen Höhen herab seinen Segen ertheilt."
     Eine fünfte Symphonie in B-Dur reiht sich in würdiger Weise an die beiden uns bekannten Symphonien in Es-Dur und E-Dur an. Energische Rhythmik, gewaltiger Gedankenreichthum, bedeutende, in großen Zügen entworfene Themen, hervorragende melodiöse Schönheiten, unvergleichliche Polyphonie, kühne Harmonik, überraschende Modulationen, großartige Orgelpunkte und überwältigende Steigerungen, immense contrapunktische Kunst, Humor, tiefe Empfindung und eine berauschende Farbenpracht der Instrumentation sind dem gestern gehörten Werke zu eigen.
    Die Tondichtung übt einen überwältigenden, an manchen Stellen beim ersten Anhören beinahe verwirrenden Eindruck, da es bei angestrengtester Aufmerksamkeit nicht möglich ist, stets den Zusammenhang der einzelnen Theile festzuhalten und sich in dem Labyrinthe der verschiedenen Stimmen und der meisterhaften, tiefsinnigen, contrapunktischen Räthsel zurechtzufinden. Die Einleitung der Symphonie beginnt mit einem langgezogenen Gesange der Violinen, von dem Pizzicato der Bässe und Celli leise begleitet, woran sich ein festliches Thema des Bläserchores anreiht, welches, von einem stürmisch aufstrebenden Motive der Streicher unterbrochen, wieder in feierlicher Weise einsetzt, um in das Allegro des ersten Satzes überzuleiten. Der Fluß dieses, an harmonischen, melodischen und orchestralen Schönheiten reichen Satzes wird indessen oft durch wuchtige Fermaten und bedeutungsvolle Pausen unterbrochen und ließ uns beim erstmaligen Hören Plastik und Klarheit vermissen. Von schöner Wirkung erwies sich der von dem Tremolo der Violinen begleitete Gesang der Celli, wie auch die folgende vom Pizzicato der Celli begleitete Cantilene der Violinen und der Holzbläser, welche Stelle eine nahe Verwandtschaft mit dem zweiten Satze der „romantischen Symphonie“ aufweist. Von imponirender Meisterschaft zeugt die geistvolle Durchführung des Satzes. Auch einzelne reizende Klangeffecte des Hornes und der einzelnen Holzbläser seien hier in Kürze erwähnl. Auch in dem breit angelegten herrlichen Adagio versteht es der Meister, den Gesang abwechselnd in mannigfaltigster und überraschendster Weise dem Bläser= und Streicherchore zuzuweisen; besonderen Eindruck machte das wirksame, trefflich ausgeführte Staccato der Holzbläser, das herrlich aufsteigende Hornthema, sowie der vollausströmende Gesang des Streicherchores. Das an das Adagio anschließende Scherzo ist ein genialer, rhythmisch packender Satz, welcher Beethoven'schen Geist athmet. Der zweite Theil des Scherzo rief durch seine fesselnde Rhythmik und entzückende Melodik einen bezaubernden Eindruck hervor. Von grandioser Wirkung war der letzte Satz der Symphonie mit seinen kolossalen Steigerungen, in welchem der Tondichter die ganze Fülle seines ungeheuren contrapunktischen Könnens und die Wunder seiner blendenden Instrumentirungskunst aufgestapelt hat. Wahrhaft überwältigend wirkte der mächtige und prachtvolle Choral, welcher, von dem verstärkten Bläserchore ausgeführt, das großartige Meisterwerk zum triumphirenden Abschluß brachte. Capellmeister Schalk dirigirte in feuriger und schwungvoller Weise das gewaltige Tonwerk, dessen Inhalt er sichtlich nach allen Richtungen geistig beherrschte und zu vollendetem Ausdrucke brachte.
     Vollstes Lob verdienen aber auch die wackeren Künstler, welche gestern ihr Bestes leisteten und den enormen rhythmischen, technischen und physischen Anforderungen, welche das Werk an die Ausführenden stellt, in so glänzender und überraschender Weise gerecht wurden. Bläser und Streicher stellten ausnahmslos ihren Mann, und jeder Einzelne darf das stolze Bewußtsein in sich tragen, zum schönen Gelingen des Abends Ersprießliches beigetragen zu haben. Die gestrige Leistung des Orchesters ist umso höher anzuschlagen, wenn man in Betracht zieht, daß die geplagten Musiker, abgesehen von den vorhergehenden Proben und der Opernaufführung des Vorabends, noch am Tage des Concertes selbst, eine zweieinhalbstündige Generalprobe  absolvirten! Capellmeister Schalk wurde stürmisch gerufen, und auch das Orchester mußte in corpore durch Erheben von den Sitzen für den rauschenden Beifall danken. Die Akustik des Theaters erwies sich gestern infolge der geschlossenen Bühne für die Gesammtklangwirkung viel günstiger, als sonst bei ähnlichen Gelegenheiten.
     Herr Richard Epstein spielte gestern Abend [... Liszt ... außerdem: Beethoven ... mit Richard Wagner ...], fand das Concert seinen würdigen künstlerischen Abschluß.          Franz Petrich." (***).

Kurzkritik (signiert »Dr. G.«) [= Dr. O. Grosse?] in der Grazer Morgenpost Nr. 80:
„      Theater und Kunst.
[…]
     * Das gestern Abend im Theater am Stadtpark stattgefundene Symphonie=Concert war gut besucht und von schönem künstlerischem erfolge begleitet. Von der Bruckner’schen Symphonie fand das Finale großen, allgemeinen Beifall, wogegen die ersteren Sätze etwas kühler aufgenommen wurden. Wir kommen auf dieses Concert, bei welchem Herr Kapellmeister Schalk, wie der Pianist Herr Epstein, stürmischen Applaus ernteten, noch zurück.
                                 Dr. G.“ (°).

Das Deutsche Volksblatt Nr. 1892 weist auf S. 8 auf das heutige Konzert hin:
"              Theater, Kunst und Literatur.
[...]
     – Der Primarius des I. Wiener Volks=Quartettes, Herr August Duesberg, veranstaltet heute Dienstag, den 10. d. M., Abends halb 8 Uhr, im großen Musikvereinssaale ein II. Volksconcert. [... Mitwirkende, Programmfolge ...]; Dr. Bruckner: Streichquintett, Volksquartett; [... (nur dieses Werk gesperrt gedruckt!) ...]" (°°)

Einen ausführlicheren Hinweis bringt die Arbeiter-Zeitung Nr. 29 auf S. 6:
"     Am Dienstag, den 10. April 1894, Abends halb 8 Uhr, findet im großen Musikvereinssaale das 2. Volks=Konzert veranstaltet von August Duesberg statt. Mitwirkende sind: Das Erste Wiener Volks=Quartett für klassische Musik (August Duesberg, 1. Violine, Fräulein Philomena Kurz, 2. Violine, Fräulein Anna v. Baumgarten, Viola, Herr Anton Nitsch, Cello, Herr Richard Hajek, 2. Viola); Fräulein Johanna Schönberger, Opernsängerin, Fräulein Natalie Javurek, Klavier=Virtuosin, Herr Ernst Appel, Balladensänger und Herr Josef Reiter, Komponist. Die Begleitung der Lieder und Violinsolo=Vorträge hat Herr Viktor Bause übernommen.
                                Vortrags=Ordnung:
1. Grieg [... 2. Hugo Wolf und Camillo Horn, 3. Wagner-Wilhelmj und Leclair ...].
4. Dr. Anton Bruckner: Streich=Quintett F-dur.
          Moderato – Scherzo – Adagio – Finale.
                     I. Wiener Volks=Quartett.
5. Schütt: [... 6. Reiter, 7. Wagner-Wilhelmj, Schablaß, Bach-Wilhelmj ...]." (°°a).

Der Termin und die Besetzung, nicht aber die Werke, werden in der Neuen Freien Presse Nr. 10642 auf S. 7 mitgeteilt (°°b).

Für die Ostdeutsche Rundschau Nr. 97, S. 6, scheint nur ein politischer Aspekt wichtig gewesen zu sein:
"                  Gesinnungsgenossen!
     An alle deutschen Kunstfreunde richten wir nochmals die dringende Bitte, das zweite Volkskonzert des Herrn August Duesberg, das heute Abends halb 8 Uhr im großen Musikvereinssaale stattfindet, zahlreich zu besuchen. Gilt es doch zu beweisen, daß wir deutsche Kunst zu schätzen und die Bestrebungen deutscher Künstler zu fördern wissen. August Duesberg ist ein Künstler, dessen Streben unsere Unterstützung in reichlichstem Maße verdient.
                            Mit u. d. Gr.
     Die Schriftleitung der "Ostdeutschen Rundschau".
" (°°c).

Aufführung des Quintetts durch das I. Wiener Volksquartett (Duesberg-Quartett) in Wien (°°°).
   Es erklingen außerdem u.a. Werke von Josef Reiter, Hugo Wolf und Camillo Horn. An diesem Abend wirken mit: A. Duesberg, Frl. Javurek, Frl. Schönberger, Herr Bause und Ernst Appel (#) und als zweiter Bratscher Herr Hajek (#a).

Theodor Helm berichtet im Pester Lloyd Nr. 87 auf S. 5 (= Beilage) von der Aufführung des »Germanenzugs« [am 29.3.1894]:
"                          Feuilleton.
               Wiener Musikbrief.

     Die großartige Trauerfeier der ungarischen Nation ist vorüber, [... kompletter Text bei www.anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=pel&datum=18940410&seite=5 ... über das Deutsche Requiem von Brahms (20.3.1894) und ein Konzert des Wiener Evangelischen Singvereins ...]
     Unter den nach Ostern gegebenen Konzerten nennen wir zunächst das der Wiener Singakademie. [...] Die Direktion führten abwechselnd die betreffenden Chormeister. Unter Herrn Ad. Kirchl's Leitung eröffneten "Schubertbund" und Philharmoniker mit Bruckner's 1863 [sic] vom Linzer Männergesangverein preisgekröntem, glänzend orchestrirtem "Germanenzug". Ein recht effektvolles Stück, das sich aber doch - bei sonst würdiger Haltung - von den Tendenzen der deutschen Liedertafel nicht ganz befreien kann und jedenfalls den späteren kühnen Symphoniker und Kirchenkomponisten Bruckner kaum ahnen läßt. Zwei sehr verschiedenartige und verschiedenwerthige Kompositionen von Beethoven (beide von Professor H. Grädener dirigirt) bildeten das übrige Programm [... Vorbehalte zu "Christus am Ölberg" ... über andere Konzerte, den Liederabend Hugo Wolfs (3.4.1894) und weitere Konzerte ...Signatur auf S. 6:] Dr. Theodor Helm." (##).

Das Amtsblatt der Wiener Zeitung Nr. 81 veröffentlicht auf S. 489 - 492 das Vorlesungsverzeichnis der Wiener Universität und meldet auf S. 492 unter "X. Fertigkeiten":
"     [... Stenographie, Gesangscurs unter Rudolf Weinwurm ...] – Harmonielehre: Fortsetzung in Moll, Tonwechslung, Chromatik etc. Harmonisirung, Contrapunkt, zwei Stunden wöchentlich, vom Lector Prof. Dr. Anton Bruckner; [... Turnen, Fechtkunst ...]" (###).

 


Zitierhinweis:

Franz Scheder, Anton Bruckner Chronologie Datenbank, Eintrag Nr.: 189404105, URL: www.bruckner-online.at/ABCD-189404105
letzte Änderung: Feb 27, 2024, 23:23