zurück 22.12.1895, Sonntag (4. Advent) ID: 189512225

Artikel von Theodor Helm in der Deutschen Zeitung Nr. 8614 auf S. 1. Es werden die Aufführungen vom 18.12.1895 (8. Symphonie in Budapest, 7. Symphonie in Frankfurt, 8. Symphonie in Dresden) besprochen.
"             Bruckner im Auslande.
     Der 18. December ist für unseren Meister Anton Bruckner ein bedeutungsvoller Kalendertag. 1892 wurde an diesem Tage zum überhaupt erstenmale – in einem Wiener philharmonischen Concerte – seine große achte Symphonie aufgeführt. Und jetzt, 1895, brachte der 18. December in drei verschiedenen Städten gleichzeitig großartige Bruckner=Aufführungen. In Ofen=Pest wurde an diesem Tage erstmalig die fünfte, in Frankfurt am Main die siebente, in Dresden die achte Symphonie aufgeführt. Dirigent war in Ofen=Pest einer der allerberufensten Interpreten des Meisters, Professor Ferdinand w [sic] aus Wien, in Frankfurt Dr. Ludwig Rottenberg (ein auch von früher her in Wien wohlbekannter Musiker), in Dresden Capellmeister J. L. Nicodé. [... große Erfolge ...].
     [... 5. Symphonie in Budapest ein Wagnis ...]. Trotzdem war der Erfolg – laut Bericht einers Ohrenzeugen – von Satz zu Satz steigend und wirkte der Schlußchoral des Finales überwältigend. Professor Löwe wurde dreimal stürmisch gerufen.
     Sehr interessant schreibt Engelbert Humperdinck, der Componist von "Hänsel und Gretel", über die Aufführung der siebenten Symphonie in der "Frankfurter Zeitung" [19.12.1895]. [... dort schon 1886 die 3. Symphonie ...].
     Das Adagio der siebenten Symphonie nennt Humperdinck einen Satz von fast transcendentaler Schönheit, den herrlichsten Eingebungen der Tonmuse beizuzählen. In den weitesten Kreisen beachtet zu werden verdienen aber die Schlußzeilen der Humperdinck'schen Besprechung, welche so lauten: "Unverständlich ist es uns, wie man bei Anton Bruckner von einem Uebertragen Wagner'scher Kunstprincipien auf die Symphonie reden kann. Die Anwendung von vier Tuben und von kühnen Harmonieverbindungen sind doch schließlich Aeußerlichkeiten, die mit dem eigentlichen Wesen der Wagner'schen Kunst nichts zu schaffen haben. Um dieses zu erkennen, muß man schon etwas tiefer graben und ebenso soll man andererseits auch Bruckner geben, was Bruckner's ist, der in seiner Art durchaus ein Original ist, ebenso gut wie Brahms, Schumann oder Mendelssohn." Am bedeutendsten scheint der Erfolg der achten Symphonie in Dresden gewesen zu sein, um deren Einstudirung sich allerdings auch Herr J. L. Nicodé (mit der verstärkten Chemnitzer Capelle) die größte Mühe gegeben.
     Besonders interessant ist wieder, was Herr Karl Söhle, der durch den Eindruck der "Romantischen Symphonie" auch für Bruckner halb gewonnene begeistere Brahms=Apostel über Bruckner's "achte Symphonie" in der Dresdener "Deutschen Wacht" schreibt [20.12.1895].
     Als Kunstwerk, in Bezug auf Form und Entwicklung, vermag zwar Herr Söhle die achte Symphonie der vierten ("romantischen") nicht völlig gleichzustellen (Durchaus nicht unsere Ansicht!), aber inhaltlich, in ihren Motiven scheint ihm doch die "achte" noch bedeutender.
     "Das verarbeitete thematische Material aller vier Sätze ist das reine Gold echtester Ausdrucksmusik tief im Hauseegger'schen Sinn."
     Hinsichtlich der Instrumentation kommt der Dresdner Kritiker gar nicht aus dem Staunen heraus über den unbeschreiblichen Glanz und die Farbenpracht". "Im ersten Satz sind alle drei Themen (auch das der Schlußgruppe) von großartiger Prägnanz und Eigenart, charakteristisch und tief seelenvoll, durch und durch ursprünglich."
     "Der Höhepunkt des Satzes, die geniale Stelle in der Durchführung, wo das Hauptthema und das drängende Fünftonmotiv des Seitensatzes (Notabene vergrößert!) combinirt sind, wirkt geradezu niederschmetternd." Adagio und Finale zusammen (?) nennt Söhle "ein zusammenhängendes (?) ungeheures Adagio – wohl das Kolossalste von Adagiostil (in Wagner'schem Sinne) in der gesammten Instrumentalmusik." "Unbeschreiblich herrlich, groß, feierlich, erhaben wie von Gottes Allgegenwart erfüllt, sind die beiden Hauptthemen des eigentlichen Adagio's, die nie wieder vergißt, wer sie einmal bewegten Herzens gehört hat. Ganz wunderbar ergreifend, in einer wundersam contemplativen Stimmung wunschloser Seligkeit, gewissermaßen versunken im Anblick des geöffneten Himmel schließt der langsame Satz." In ähnlich begeisterter Weise äußert sich unser geschätzter Dredener College über das Finale, besonders dessen Schlußsteigerungen, und auch das Scherzo ("Der deutsche Michel") erscheint ihm mit seinem Natur=Dreiklangsmotiv "höchst drastisch". – Wo nun die Sache selbst – wie vorstehende Textproben verrathen – auf den empfänglichen Musikfreund – so ungeheuren Eindruck macht, fallen eigentlich etwaige formelle Bedenken nur sehr wenig ins Gewicht.           h–m."


Zitierhinweis:

Franz Scheder, Anton Bruckner Chronologie Datenbank, Eintrag Nr.: 189512225, URL: www.bruckner-online.at/ABCD-189512225
letzte Änderung: Dez 31, 2023, 14:14